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Redaktionsgespräch 9..2000

Erfolgsmodelle abschaffen?

Zur umkämpften Altersvorsorge und hängigen AHV-Initiativen

Am 26. November stimmen die Stimmberechtigten über ein tieferes Rentenalter ab. MOMA nimmt dies zum Anlass, die Altersvorsorge auf verteilungspolitische Schwächen abzuklopfen. Wo und wie werden Frauen über den Tisch gezogen? Wer profitiert von der 2. Säule? Die grüne Nationalrätin Ruth Genner und Andreas Rieger von der Gewerkschaft Bau und Industrie GBI sprechen Klartext.

MOMA: Wo liegen die Probleme der Altersvorsorge heute?

Ruth Genner: Die Demographie wird oft in den Vordergrund gestellt, und damit argumentiert, dass auf lange Frist zu wenig Mittel zur Verfügung stünden. Verhandelt werden allerdings nur die Finanzen. Dass die demographische Entwicklung politisch beeinflusst werden kann, steht kaum zur Diskussion. Die Perspektive von Familien mit Kindern oder von Müttern wird politisch oft unterschlagen, so etwa bei Steuerfragen, der Diskussion von Betreuungsmöglichkeiten, der Mutterschaftsversicherung oder bei den Kinderrenten.

Wichtiger als die Demographie ist die Erwerbsquote. Bei der 11. AHV-Revision stellte man noch stark auf die Rezession und die tiefere Erwerbsquote der Frauen ab. Die Relation Männer und Frauen wird zu wenig stark berücksichtigt. Bei der gestiegenen Erwerbsquote der Frauen wird kaum beachtet, dass Frauen mehr Teilzeitarbeit leisten und im Vollzeitbereich deshalb untervertreten sind. Rahmenbedingungen von Erziehungsmodellen werden nicht diskutiert. Bei der 11. AHV-Revision kommt man mit einer Gleichstellung der Witwen- an die Witwerrente und gaukelt damit vor, dass die Rollen nun gleichberechtigt verteilt seien.

Andreas Rieger: Die AHV ist ein sehr erfolgreiches Modell. Mit der Einführung der AHV und den folgenden Revisionen, den Ergänzungsleistungen und teilweise auch mit der zweiten Säule ist die Altersarmut kein Massenphänomen mehr. Das AHV-Modell liegt quer zur neoliberalen Kampagne, die Sozialwerke seien zu teuer und zu ineffizient. Hier gilt, dass nicht sein kann, was nicht sein darf. Man greift deshalb die AHV an, und zwar von der Leistungsseite her, nicht von der Seite der gesellschaftlichen Resultate. Das haben die Bürgerlichen immer wieder getan, seit der Einführung der AHV ist sie periodisch in Krisenzeiten in deren Perspektive nicht finanzierbar. Mit einem BIP-Wachstum von einigen Prozenten und mit der integralen Verwendung des neuen Mehrwertsteuerprozentes für die AHV werden die Einnahmen aber so stark zunehmen, dass diese Dramatisierung unglaubwürdig wird.

Aus Sicht der Demographie ändert sich zwar das Verhältnis von Erwerbstätige zu RentnerInnen. Doch bei der Erwerbsquote wurde schwarzgemalt. Die Prognosen des Bundes gingen von einer Null-Immigration aus, was in der Schweiz seit 150 Jahren nie der Fall war, und berücksichtigten die ansteigende Erwerbsquote der Frauen nicht.

Genner: Ich halte die AHV ebenfalls für ein Erfolgsmodell. Aber für die Sozialwerke insgesamt gilt, dass sie die Frauen benachteiligen, weil sie auf die Arbeitsbedingungen ausgerichtet sind und diese sind männlich geprägt. Jede zweite erwerbstätige Frau hat keine zweite Säule. Das Dreisäulenkonzept versagt hier eindeutig.

In welche Richtung soll eine linke Alterspolitik vor dem Hintergrund dieses Dreisäulenkonzeptes gehen?

Genner: Mit der 10. AHV-Revision konnten Frauen vom neuen Erziehungsbonus profitieren. Sie bezahlten dafür einen hohen Preis mit zwei zusätzlichen Rentenjahren. Die 11. AHV-Revision nun ist für die Frauen katastrophal. 400 Mio. Fr. bezahlen die Frauen für ein weiteres zusätzliches Rentenjahr (Gleichstellung auf 65 Jahre) und 800 Mio. Fr. für die "Gleichstellung" der Witwenrente an die Witwerrente. Vor einem Jahr hat man den Frauen zusätzliche 200 Mio. Fr. für die Mutterschaftsversicherung verweigert und nun sollen sie wieder bezahlen. Die Flexibilisierung der 11. AHV-Revision ist, so wie sie der Bundesrat nun vorlegt, nicht sozialverträglich. Für die Frauen ist eine gute Ausgestaltung der AHV sehr wichtig, da sie in der zweiten Säule gegenüber den Männern ebenfalls massiv benachteiligt werden, insbesondere wegen des hohen Koordinationsabzuges. Er passt nicht zu den tatsächlichen Verhältnissen im Erwerbsleben. 54% der Frauen arbeiten Teilzeit, ihre Löhne sind grosso modo tief und liegen im Durchschnitt 24% unter denjenigen der Männer. Eine Lösung kann nur darin liegen, den Koordinationsabzug massiv zu senken oder ganz abzuschaffen. Die AHV sollte in erster Linie für die Erwerbsersatzquote zuständig sein. Die Bürgerlichen verlangen hier eine Privatisierung.

Rieger: Die 10. AHV-Revision sehe ich etwas weniger positiv. Der Erziehungsbonus ist zwar eine gute Errungenschaft, aber es handelt sich um bescheidene Beträge: Auch bei 16 Jahren Erziehungsbonus kommt eine Frau, wenn sie vorher und nachher in einer Teilzeitanstellung tätig war, nie auf eine Maximalrente.

Genner: Da möchte ich einhaken: Der Erziehungsbonus entspricht mit 36 000 Franken pro Erziehungsjahr immerhin dem nun diskutierten Mindestlohn. Eine nicht-erwerbstätige Frau erhält damit als Altersvorsorge für ihre nicht bezahlte Erziehungsarbeit Geld garantiert. Das halte ich für eine wichtige Errungenschaft.

Rieger: Dennoch war die Erhöhung des Pensionsalters für Frauen ein hoher Preis und hat Tore geöffnet. Gewerkschaften und Grüne waren hier geteilter Meinung. Die SP war in sich gespalten. Dieses Problemlösungsmuster der Rentenaltererhöhung wird nun weitergestrickt. Die Freisinnigen sind schon bei 67, die SVP unvorsichtigerweise schon bei 68 Jahren. Beim Alter wird angesetzt, weil es schwierig ist, Renten anzugreifen. Man hat hier eine elektoral mächtige Gruppe vor sich. Darauf beruht auch die Strategie der SVP: Wir kürzen die Rente nicht, aber wir müssen dafür das Rentenalter erhöhen.

Auch bei der 11. AHV-Revision wird dieses Muster bei den Frauen eingesetzt. Zusätzlich müssen sie noch das Witwenopfer bringen. Als Fortschritt wird hier nur die minime Abfederung mit der flexiblen Pensionierung versprochen. Wir können hier nun nicht kleine Verbesserungen fordern, sondern müssen uns ganz klar gegen diese 11. AHV-Revision wehren. Sie ist schlicht falsch und trifft die, die die AHV am meisten nötig hätten.

Vor allem betroffen sind die Frauen, die bei der zweiten Säule klar schlechter gestellt sind als die meisten Männer. Im Gastgewerbe sind auch die Männer nicht überobligatorisch versichert, d.h. ihre Arbeitgeber zahlen nicht mehr ein als ihren gesetzlichen Pflichtbetrag. Sie werden auch keine grossen Renten erzielen. Aus Sicht der GBI stärken wir nun lieber die erste als die zweite Säule. Für den Koordinationsabzug kann das bedeuten: Die Bürgerlichen bieten hier Hand zu einer Senkung. Voraussichtlich wird das nicht der Fall sein, deshalb verlangen wir anstatt einen sogenannten Koordinationszuschlag bei der AHV. Bei Teilzeitarbeit wird z. B. der Verdienst kompensatorisch auf 100 Prozent aufgerechnet, so dass eine volle Rente erzielt werden könnte.

Genner: Wird der Koordinationsabzug nicht gesenkt, muss er zumindest anteilsmässig berechnet werden. Die tiefen Löhne müssen versichert werden, vor allem unter Berücksichtigung der Tatsache, dass 25 bis 28 Milliarden in die AHV fliessen, 45 bis 47 Milliarden in das BVG. Und das BVG macht seinen grossen Coup mit dem Teil der Versicherten, die einen Lohn über 72'000 Fr. beziehen. Ich denke, diese Privaten müssen nicht geschont werden.

Das Pensionskassensystem ist eine riskante Angelegenheit. Der Immobilienboom Ende der Achtzigerjahre mit anschliessendem Crash 1990 war von den Pensionskassen mitverschuldet. Die Schweiz exportiert Kapital, die Staaten verschulden sich immer weniger, sichere Anlagen werden schwieriger. Weshalb also die zweite Säule favorisieren, wenn wir in der AHV eine effiziente und sichere Altersvorsorge haben?1

Genner: Nur mit der AHV allein kommen wir nicht auf eine ausreichende Ersatzquote. Da Frauen bei der zweiten Säule zu mehr als der Hälfte nicht berücksichtigt werden, muss es auch ein Anliegen der Gleichstellung sein, dass sie dazu Zugang – mit entsprechend tieferem Koordinationsabzug – erhalten. In der zweiten Säule finden wir auch die Vorzüge des Erziehungsbonus nicht.

Rieger: Die erste Säule hat ein wesentliches Problem gelöst. Die zweite Säule verfügt über mehr als 500 Mrd. Franken. Das ist eine Tatsache, ob wir sie nun mögen oder nicht. Wir können diese halbe Billion nicht wegdenken. Es handelt sich um das Geld von Lohnabhängigen. Ein Teil der überobligatorischen Renten sind dabei Luxusrenten. Denn im Gegensatz zur AHV gibt es bei der 2. Säule keine Rentenplafonierung nach oben. Diese Renten werden am Fiskus vorbeigeschleust, das ist klar. Aber der obligatorische Teil ist wesentlich mitverantwortlich dafür, dass die Altersarmut nicht mehr besteht. Für viele RentnerInnen ist dies ein wichtiger Bestandteil ihrer Rente geworden.

Benachteiligt sind hier die Frauen, die aus eigener Erwerbstätigkeit nichts bekommen, daneben gibt es einige Hyperprivilegierte. Auch ist die zweite Säule unsicher, in der Verwaltung zu teuer und durch die geringen Umverteilungseffekte gar keine eigentliche Sozialversicherung. Wenn wir nun diese zweite Säule und deren Milliarden für ein zu riskantes System halten, müssen wir die Präferenzen auf den Ausbau der ersten Säule legen.

Genner: Auch in der neuen BVG-Revision werden die Frauen benachteiligt. Der Umwandlungssatz wird von 7,2 auf 6,65 Prozent gesenkt, das entspricht fast 8 Prozent weniger Rente. Und gleichzeitig soll das Rentenalter der Frauen direkt von 62 auf 65 erhöht werden. Diese Revision muss daher verhindert werden.

Im Nationalrat wird im Herbst beschlossen, dass auch die AHV Aktien ausländischer Unternehmen kaufen kann. Aber bei den Anlagen der AHV handelt es sich um vielleicht 1/20 der Beträge der Pensionskassen. Für die 2. Säule müssen auch andere Modelle überdacht werden, zum Beispiel wie Versicherte an ihr Kapital kommen können, zum Beispiel mit einem Zins von 4 Prozent für ihr eigenes Wohneigentum bei weiterer Gewährleistung des Versicherungsschutzes.

Rieger: Meine Vorschläge gingen alle in Richtung Stärkung der ersten Säule. Ein wesentlicher Schritt dorthin ist die Einführung der Ruhestandsrente, d. h. die Senkung des Pensionsalters für jene, welche die Erwerbstätigkeit aufgeben. Das ist nicht ganz gratis zu haben. Eine ungekürzte Rente soll ab 62 Jahren bezogen werden können. Bei bestimmten Gruppen von Erwerbstätigen ist sogar 62 relativ spät. Nach 40 Jahren Berufstätigkeit können viele Leute nicht mehr. Diese Limite ist in beiden Initiativen, die zur Abstimmung anstehen, formuliert. Zur Zeit denken wir über eine Umsetzung der Formel "40 Jahre sind genug" nach.

Genner: Vorzeitige Pensionierung ist heute bereits ein Stück Realität, aber eine entsprechende Finanzierung bei der 1. Säule fehlt. Das effektive Rentenalter liegt tiefer als das offizielle. Bei den IV-Renten, Arbeitslosengeldern, Integrationsmassnahmen Jugendlicher und den Gesundheitskosten könnte deshalb mit dem tieferen Rentenalter gespart werden.

Die beiden Initiativen, über die im November abgestimmt wird, sind hier ein Schritt in die richtige Richtung. Die Initiativen sind aber sehr ähnlich. Gab es hier einen Graben zwischen Grünen und Arbeitnehmerverbänden?

Genner: Die Grünen haben in Bern eine Tandeminitiative vorgelegt. Flexibler Altersrücktritt und flexible Teilpensionierung war die eine. Die andere enthält das entsprechende Finanzierungsmodell. Wir konnten uns von diesem integrierten politischen Doppelvorschlag nicht trennen und wir erhielten auch wenig Unterstützung von den Gewerkschaften in Sachen einer Energiebesteuerung. Grundsätzlich sind wir uns aber einig: Es braucht ein doppeltes "Ja" im Herbst!

Rieger: Mit der Initiative "Energie statt Arbeit besteuern" schienen uns die Grünen das von bürgerlicher Seite beschworene Finanzierungsproblem der AHV zu bestätigen. Zudem hatten wir Mühe bei der Aussage, dass eine Energieabgabe eine bessere Finanzierungsart sei als die Lohnprozente. Wir vertreten diese Ansicht nicht, da die Lohnprozente noch progressiv ans Einkommen gekoppelt sind. Aber es gibt effektiv auch Sozialversicherungsleistungen, die man unserer Ansicht nach nicht über Lohnprozente finanzieren muss wie beispielsweise die Kinderrente. Eine Einigung zum Rückzug der einen oder andern Initiative lag aber sowieso ausserhalb der Entscheidungsreichweite des SGB. Sie wurde zwischen der Grünen Partei und dem Kaufmännischen Verband verhandelt.

So oder so: Wir engagieren uns im November für ein JA zu den Initiativen von SKV/SGB und der Grünen. Sonst steigt das Rentenalter weiter, statt dass es sinkt.

 

Obligatorium, Koordinationsabzug "Art. 7 Mindestlohn und Alter

1 Arbeitnehmer, die bei einem Arbeitgeber einen Jahreslohn von mehr als 24 120 Franken beziehen, unterstehen ab 1. Januar nach Vollendung des 17. Altersjahres für die Risiken Tod und Invalidität, ab 1. Januar nach Vollendung des 24. Altersjahres auch für das Alter der obligatorischen Versicherung.

2 Dieser Lohn entspricht dem massgebenden Lohn nach dem Bundesgesetz vom 20. Dez. 1946 über die Alters- und Hinterlassenenversicherung (AHVG). Der Bundesrat kann Abweichungen zulassen.

Art. 8 Koordinierter Lohn

1 Zu versichern ist der Teil des Jahreslohnes zwischen 24 120 und 72 360 Franken. Dieser Teil wird koordinierter Lohn genannt.

2 Beträgt der koordinierte Lohn weniger als 3015 Franken im Jahr, so muss er auf diesen Betrag aufgerundet werden.

3 Sinkt der Jahreslohn vorübergehend wegen Krankheit, Unfall, Arbeitslosigkeit oder aus ähnlichen Gründen, so behält der bisherige koordinierte Lohn mindestens solange Gültigkeit, als die Lohnfortzahlungspflicht des Arbeitgebers nach Artikel 324a des Obligationenrechts bestehen würde. Der Versicherte kann jedoch die Herabsetzung des koordinierten Lohnes verlangen."

Anzumerken ist dabei, dass 24’120 Franken (sog. Koordinationsabzug) der maximalen AHV-Rente entsprechen. Nur Einkommen darüber werden versichert. zurück

Überobligatorische
Versicherung
Es steht ArbeitgeberInnnen und ArbeitnehmerInnen frei, sich über die obligatorische Summe hinaus zu versichern. Dies wird vor allem aus steuerrechtlichen Gründen gemacht (tiefere Steuerprogressionseinstufung) und begünstigt mittlere und hohe Einkommen. zurück
Fussnote 1 Vgl. MOMA 10.99, S.17-19. zurück
Umwandlungssatz "Art. 14 Höhe der Rente

1 Die Altersrente wird in Prozenten des Altersguthabens (Umwandlungssatz) berechnet, das der Versicherte bei Erreichen des Rentenalters erworben hat. Der Bundesrat bestimmt den Mindestumwandlungssatz unter Berücksichtigung der anerkannten technischen Grundlagen.

2 Mit der Zustimmung des Bundesrates können Vorsorgeeinrichtungen einen tieferen Umwandlungssatz anwenden, wenn sie die sich daraus ergebenden Überschüsse zur Leistungsverbesserung verwenden."

Dabei gilt: "1 Der Mindestumwandlungssatz für die Altersrente beträgt 7,2 Prozent des Altersguthabens. Er gilt unabhängig von Geschlecht und Zivilstand." (Verordnung über die berufliche Alters-, Hinterlassenen- und Invalidenvorsorge (BVV 2).

Anzumerken ist dazu, dass beim Mindestumwandlungssatz von gegenwärtig 7,2 Prozent das Alterskapital in 14 Jahren aufgebraucht wäre (ohne Einbezug des Ertrags durch das Kapital). Die von bürgerlicher Seite geforderte Senkung auf 6,65 Prozent entspräche einer Altersvorsorge für 16 Jahre. zurück

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