Email Inhalt aktuelle Nummer Echo/Diskussion Impressum
Home Webseite durchsuchen Archiv Bestellen

 

Redaktionsgespräch 7/8..2000

Viele Hoffnungen (Viele Risiken)

Konsum und Gentechnologie

Aus einer wirtschaftlichen Sicht kann man Normalität definieren als alles, was funktional hinsichtlich des Profits ist. Was nicht rentiert, ist wirtschaftlich nicht normal: uninteressant oder hinderlich. Kritik an dieser Art von Normalität bewog Pier Paolo Pasolini zu Beginn der 70er-Jahre zu einem eigentlichen Kreuzzug gegen den Konsum. Schlimmer als der Faschismus unter Mussolini sei dieser "neue Faschismus", den er in der Konsumgesellschaft ortete. Mit seinem scheinbaren Egalitarismus mache er die Leute zu Marionetten, die alle das gleiche konsumierten und den Konsum zum eigentlichen Lebenszweck erhöben. Dabei gingen alle Differenzen aus Tradition und Kultur verloren, der Mensch orientiere sich nur noch an "Freude" und "Glück" und lasse den Rest unhinterfragt. Über Konsum heute, Gentechnologie und die Normalität von morgen unterhielt sich MOMA mit der Biologin Florianne Koechlin und der Konsumentenschützerin Simonetta Sommaruga.

MOMA: Knapp dreissig Jahre nach Pasolini hat sich unsere Konsumgesellschaft weiter verfeinert. Haben sich die Tendenzen zur Normalisierung, zum normalisierenden Konsum weiter verschärft, leben wir in der Schweiz, vorwiegend um zu konsumieren?

Simonetta Sommaruga: Es hat sich sogar noch weiter entwickelt, als sich das Pasolini wahrscheinlich vorstellen konnte, nämlich zu einem Stück Konsumzwang, einem eigentlichen Konsumterror. Der Wert des Konsums wurde sehr stark verinnerlicht. Ich sehe das aber nicht nur negativ, denn es gibt auch eine Gegenbewegung, die Konsumabstinenz als Luxus ansieht und aus freier Wahl darauf verzichtet. Die Kritikfähigkeit und Mündigkeit von KonsumentInnen haben sich ebenfalls verstärkt. Auch können heute Konsumtrends gebremst werden; eigentliche Entschleunigungsmechanismen sind am Werk. Wir haben demnach zwei Tendenzen. Diese beiden halten sich in einem Gleichgewicht.

Wie aber stellt sich denn die heutige Wirtschaft, die ja ihre Produkte möglichst breit streuen will, den/die Schweizer DurchschnittsbürgerIn vor? Und von welchen Annahmen von "normalem" Konsum lässt sich der Konsumentenschutz leiten?

Sommaruga: Für die Wirtschaft ist es heute unheimlich schwierig, den/die NormalverbraucherIn zu definieren. Man spricht deshalb heute auch von der "hybriden Konsumentin" und vom "hybriden Konsumenten". Diese Konzeption vereinigt in derselben Person verschiedenste Züge. Nehmen wir die Konsumentin, die unter der Woche irgend etwas isst und dafür am Wochenende sehr bewusst ökologisch und tierfreundlich produzierte, teure Lebensmittel einkauft und selber gesund kocht. Die gleiche in Bezug auf Lebensmittel kritische Person kann dann in der Auswahl beispielsweise ihrer Bank völlig unüberlegt, unkritisch sein oder handkehrum sich Informationen beschaffen und entsprechend handeln. Dieses sehr disparate Konsumverhalten wandelt sich übrigens auch. Kinder können beispielsweise das Konsumverhalten einer Frau ganz massiv verändern. Wenn Kinder Allergien entwickeln, bringt das ganz neue Sensibilitäten bei den Eltern hervor. Das Verhalten kann sich in einer Woche, in 10 Jahren oder überhaupt nie ändern. Diese Konsumentin macht der Wirtschaft extrem Mühe, weshalb ja immer diese Daten gesammelt werden müssen, um die Menschen auch in ihren Widersprüchen kennenzulernen.

Der Konsumentenschutz braucht hingegen die Leute nicht so genau zu kennen. Zwischen Konsumentin und Anbieter gibt es ein strukturelles Informationsdefizit. Dieses Defizit möchten wir mittels Information aufholen und auch über Gesetze dafür sorgen, dass sich der Anbieter mit diesem Wissensvorsprung nicht einen ungebührlichen Vorteil verschaffen kann. Wir haben allerdings auch eine gewisse Vorreiterrolle: Wir vertreten ab und zu Ansichten, die nicht von 98 Prozent der KonsumentInnen vertreten werden. Vor acht Jahren wurde ich für mein Engagement für biologische Lebensmittel noch ausgelacht, heute darf auch der Bankmanager ohne Erröten dazu stehen, dass seine Frau biologisch einkauft.

Durch dieses Vordenken wird also die zukünftige Normalität vorgespurt?

Sommaruga: Ja, da haben wir auch die Funktion einer Pionierrolle inne. Wir sind aber beileibe nicht die einzigen, die das tun! Das Eigentümliche der Pionierrolle besteht darin, den Mut zu haben, sich für das einzusetzen, was gegenwärtig noch nicht normal ist. Das Einstellen einer Normalität kann dann auch bitter und schwierig sein. Ich denke beispielsweise an die Vielzahl von Markt- und Bioläden, deren mutiges Angebot heute in allen Grossverteilern zum normalen Angebot gehört. Solche Entwicklungen führen zu einer gewissen Gratwanderung, aber wenn es in die richtige Richtung geht, ist diese Normalität schlussendlich doch zu begrüssen.

Nicht in die richtige Richtung geht nach Ansicht vieler, was es zu Pasolinis Zeiten ebenfalls noch nicht gab. Die Gentechnologie wird von den einen als Akt gegen die Natur und Gott, von den anderen als verantwortungslose Geschäftemacherei kritisiert. Aber seit Tausenden von Jahren bearbeitet und verändert der Mensch die Natur. Diese "Kultur" hat aus der Natur einen Naturpark gemacht. Wozu also die Kritik an der Gentechnologie, die doch angeblich "evolutionsfreundlich" und "naturharmonisch" – an dieser Stelle ein Synonym für "normal" – arbeitet?

Florianne Koechlin: Mich amüsiert immer wieder diese Behauptung, die Gentechnologie sei so normal wie jede Züchtung, gleichzeitig wird betont, dass es sich um derart neue Entwicklungen, respektive "Erfindungen" der Menschheitsgeschichte handelt, dass sie jetzt patentiert werden sollen, was bisher noch nie möglich war. Diesen Widerspruch finde ich immer noch bemerkenswert.

Das Verschieben von Genen über alle Artengrenzen hinweg – das nennen wir Gentechnologie. Ein Fisch-Gen in einer Tomate, damit die in Norwegen gegen Kälte resistent ist oder Mais mit Bakteriengiften-Genen: Solche Verschiebungen sind erst mit der Gentechnik möglich. Hier werden Jahrmillionen alte Artengrenzen übersprungen. Eine Art definiert sich herkömmlicherweise so, dass sich Lebewesen nur innerhalb dieser Art fortpflanzen können, der Elefant also nicht mit dem Mäuslein und so weiter.

Es gibt nun eine Reihe von Bedenken, die auch ich teile. Da sind einmal die Risiken: Die modernen Zauberlehrlinge setzen neuartige Lebewesen in die Natur, die die Natur noch nie "gesehen" hat. Diese Risiken sind sehr langfristig, sie sind weder kontrollier- noch vorhersehbar. Es erscheinen immer wieder Studien, die unerwartete Effekte aufzeigen. Wie gehen wir mit diesem "gewussten Nicht-Wissen" um?

Die andere Frage ist: Wollen wir überhaupt Gentechnologie? Müssen wir das einfach hinnehmen? Gegen genmanipulierte Nahrungsmittel gibt es grossen Widerstand. Sicher wegen der Risiken, aber auch wegen der Arroganz, mit welcher diese Lebensmittel hätten eingeführt werden sollen. Nicht separiert, nicht deklariert hätten sie auf den Markt kommen sollen. Damit aber wird das grundlegende demokratische Recht auf Wahlfreiheit zur Farce. Das hat aber nicht gegriffen: Überall auf der Welt haben sich die Menschen gewehrt, in Schweden, in Japan, Brasilien und hier in der Schweiz. Sie finden hier in der Schweiz nirgendwo Gentech-food zum Kaufen. Hier hat die These, dass normal nur ist was rentiert und dass was dem Profit dysfunktional ist, keinen Bestand hat, sich nicht bestätigt. Die Industrie ist in der Defensive wie selten. Die Gentechnologie, als die Produktionsweise dieses Jahrhunderts hochgefeiert, hat massive Imageprobleme, die Firmen sitzen auf ihren Produkten. Das ist zwar bloss eine Pause und noch kein Sieg, aber es ein wichtiger Schritt. Wehren muss ich mich zur Zeit denn auch weniger gegen die Industrie als gegen den Pessimismus und den Ökofatalismus in den eigenen Reihen. Wir konnten hier ein Zeichen setzen.

Kürzlich hat der Bundesrat entschieden, eine GVO-Verunreinigung (GVO: genveränderte Organismen) von Saatgut von 0,5 Prozent sei zu tolerieren. Damit kommen Gentech-Nutzpflanzen durch die Hintertür auf unsere Felder und aller Widerstand ist angesichts geschaffener Tatsachen vergeblich.

Koechlin: Zu dieser Verordnung muss gesagt werden, dass der Bundesrat auch sehr strenge Kontrollen mit diesem Entscheid verknüpft, wie sie in Europa einzigartig sind. Saatgut, das diese Auflagen nicht erfüllt, darf nicht angepflanzt werden.. Ich persönlich bin da in einem grossen Dilemma. Denn Saatgut ist nicht irgend etwas, sondern es wird ausgesät, es vermehrt sich, wird weitergegeben an nächste Generationen, und was dieses Jahr ein halbes Prozent ist, ist nächstes Jahr schon wieder mehr. Da hätte ich lieber eine Null-Toleranz. Aber eine Katastrophe ist es nicht, denn 0,5 Prozent als schlimmstmögliche Verunreinigung ist trotzdem sehr wenig. Wir leben ja nicht unter einer Käseglocke.

Das ist doch auch nur eine Normalisierungsstrategie, eine Art Salamitaktik der Industrie.

Koechlin: Dieses Manöver wurde, soweit ich weiss, nicht von der Industrie initiiert. Im Gegenteil steht dahinter der Versuch der Verwaltung, eine gentechfreie Schweiz zu erhalten, weil sie eine Marktlücke darstellt, die es auch aus volkswirtschaftlicher Sicht zu bewahren gilt.

Sommaruga: Ich stimme hier mit Florianne Koechlin nicht ganz überein. Ich begrüsse die Saatgutverordnung, denn erstens konnte hier eine Allianz für gentechfreies Saatgut gebildet werden, die aus Produzenten, Konsumenten und Saatgutproduzenten besteht. Die Saatgutverordnung erhält diese Forderungen aufrecht und führt eine starke Qualitätssicherung ein. Trotzdem ist es tatsächlich ein – wenn auch kleiner – Kniefall vor der Industrie, eine Null-Null-Toleranz ist heute offensichtlich nicht möglich. Das bestätigen auch Bio-Bauern, die befürchten müssen, plötzlich GVO-Anteile in ihrem Saatgut zu finden. Mit einer Null-Null-Toleranz würden wir hier einen Markt zerstören. Die Frage stellt sich, wo wir einlenken und wo wir den Widerstand ansetzen müssen, um weitere Zugeständnisse zu verhindern.

Ich betrachte es aber ähnlich optimistisch wie Florianne Koechlin: der Widerstand gegen Gentech ist breit, was ich angesichts der Macht der Gentech-Industrie für phänomenal halte. Ich vermute, der Widerstand hängt mit der Tatsache zusammen, dass diese Technologie von den Menschen grundsätzlich als abnormal eingestuft wird. Aber auch die Einführung der Technologie war – wie erwähnt – abnormal. Es wurden praktisch sämtliche möglichen Fehler einer Markteinführung begangen.

Koechlin: Es ist tatsächlich nicht die Zeit für Kniefälle. Wegen dem massiven Druck beginnen nun die grossen Saatgutfirmen die Herstellung von Saatgut in diejenigen Länder zu verlegen, wo es noch keine Freisetzungen gibt. Dadurch besteht kein Risiko mehr, dass das Saatgut ungewollt von Gentech-Pollen kontaminiert wird. Die kanadische Firma Advanta z.B. verlegt die Herstellung von Raps-Saatgut nach Neuseeland und Pioneer-Hi-Bred will ihr für Europa bestimmtes Mais-Saatgut in Österreich oder Ungarn herstellen. Das ist für diese gentechfreien Länder auch eine Chance! Dies könnte es auch für die Schweiz sein, wenn wir ein 10-jähriges Moratorium für die Freisetzung von transgenen Pflanzen beschliessen.

Sie betonen jetzt die Einzigartigkeit der Gentechnologie und des Widerstands dagegen. Aber sind nicht die Vorbereiter der Gentech die Pioniere von heute, die den Weg bereiten zur ganz normalen Gentechnologie? Gerade über die Lebensmittel können auch die "gesunden", "dynamischen" und "frohen" Menschen von morgen mitgeformt werden.

Koechlin: Ich frage provokativ: Was ist falsch am "glücklich sein" und am "Genuss"? Wir sagen: Bio ist der grösste Genuss. Wir wollen gesund und lustvoll essen, darum sagen wir Nein zu Gentech-food. Der Riesenboom von Bio, den wir in den letzten Jahren erlebt haben, war deshalb ermutigend. Nun müssen wir einen Schritt weitergehen: Bio ist nicht nur Genuss, Bio-ForscherInnen sind auch die Pioniere für die Landwirtschaft der Zukunft. Das glauben viele Leute noch nicht. Für viele ist Gentech die Zukunft und Bio etwas altertümlich. Diese Polarisierung gilt es nun umzukehren: Bioforschung ist faszinierend und hat eine grosse Problemlösungskompetenz, Gentech in der Landwirtschaft hingegen ist eine Option von gestern.

Es gibt aber kritische Köpfe, die das Ansteigen der Bevölkerung und die Problematik der Nahrungsmittelproduktion nur mit Gentechnologie als lösbar erachten, weil sonst die Produktion nicht weiter erhöht werden könne.

Koechlin: Kürzlich war ich in Kenya am Forschungs-Institut ICIPE, an welchem 300 Menschen Forschung zu Insekten und zu nachhaltiger Entwicklung für die Dritte Welt betreiben. Eine Bäuerin hat uns zwei ihrer Maisfelder gezeigt. Das eine Feld hatte verkümmerte Pflanzen, denn dort fanden sich der Stengelbohrer und "witch weed", zu deutsch Striga, das eines der schlimmsten Unkräuter ist. Stengelbohrer haben auf Mais und Sorgho eine verheerende Wirkung. Im anderen Feld, dessen Pflanzen gross und gesund waren, hatte die Frau um das Feld herum das wilde Napier-Gras gepflanzt, zwischen die Pflanzen ein Bohnengewächs, das Desmodium. Das Napier-Gras zieht die Stengelbohrer mit Lockdüften aus dem Feld, das Desmodium vertreibt Stengelbohrer und auch Striga. Mit dieser Push-Pull-Methode haben die Bauern und Bäuerinnen das Problem einigermassen im Griff und die Methode verbreitet sich rasant.

Ein ganz anderes Konzept: Novartis will in Kenya genmanipulierten Bt-Mais gegen den Stengelbohrer untersuchen und später einführen. Sie zahlt dafür an ein kenyanisches Forschungs-Institut 6,2 Millionen Dollar.

Das Konzept mit dem Napier-Gras funktioniert, es wurde mit den Bauern zusammen entwickelt. Die Produktivität steigt dabei um 50 bis 100 Prozent. Zusätzlich sind Napier-Gras und Desmodium hervorragendes Tierfutter; die Bäuerin konnte aus dem Verkauf davon ihre Kinder in die Schule schicken. Das Bohnengewächs Desmodium düngt den Boden mit Stickstoff, verhindert Bodenerosion und hält den Boden feucht. Produktivität auf einem Feld bedeutet hier viel mehr als x Prozent mehr Mais. Es sind grossartige Konzepte, hinter denen viel kluge Denkarbeit steckt. Immer geht es darum, von der Natur zu lernen, die schwächsten Glieder zu finden, und dies mit modernster Wissenschaft, um daraus effiziente, nachhaltige und für die Bauern erschwingliche Methoden abzuleiten. Der Direktor des Instituts, der Schweizer Hans Herren, erhielt 1995 den Welternährungspreis. Er sagt, dass mit einfachsten Mitteln in Infrastrukur und mit nachhaltigen Konzepten die Produktivität in Afrika zwei bis drei Mal erhöht werden kann. Nur sind diese Konzepte nicht so sexy, weshalb heute alle in die Gentechnik investieren wollen. Aber mich haben die Projekte des ICIPE restlos begeistert.

Neben dem design food, also dem schönen Schaum auf dem Bier und der richtigen Oberflächenbeschichtung des Kaugummis usw., gibt es auch den functional food. Funktionelle Lebensmittel sollen einen Zusatznutzen mit sich bringen, beispielsweise als Medikamente. Der Gesetzgeber wird hier regulieren müssen. Doch diese Zusatzfunktionen werden das Konsumleben nicht vereinfachen, weil auch hier ein Informationsdefizit vorhanden ist.

Sommaruga: Funktionelle Lebensmittel sind sicher nicht ein Bedürfnis, sondern es müssen in einem gesättigten Lebensmittelmarkt künstliche Bedürfnisse geschaffen werden. Sie fügen sich aber in eine ganze Entwicklung ein. Lebensmittel werden zunehmend standardisiert, was für uns eindeutig Vorteile hinsichtlich Qualität mit sich bringt. Unser Standard hinsichtlich Lebensmitteln vereinfacht auch das Leben: Die Frau, die den ganzen Tag mit Kochen beschäftigt ist, gibt es bei uns nicht mehr. Als ich einmal die indische Küche wegen ihrer Frische gelobt habe, weil drei Mal am Tag die Chapatis frisch gemacht werden, wurde ich von einer Inderin mit klaren Worten darauf aufmerksam gemacht, dass es sich um patriarchale Strukturen handle, die die Frau den ganzen Tag im Haus behalten, ihr keine Anerkennung und Verdienst, dafür viel Arbeit bringen. Der Fortschritt kann eine gewisse Emanzipation unterstützen. Im Alltag verhalten sich im Übrigen auch kritische Leute auch nicht durchgehend widerspruchsfrei. Und ein konsequentes Durchhalten der Ablehnung solcher Lebensmittel ist anstrengend.

Heute kommt es aber zu einer Perversion dieser Entwicklung. Lebensmittel werden mit synthetischen Substanzen angereichert, die auch noch die Gesundheit fördern sollen. Plötzlich soll ein Wässerchen oder Pülverchen angereichert mit einigen Vitaminen und Mineralstoffen usw. als "gesund" angepriesen werden und der Apfel, der all dies schon enthält, darf nicht mehr angepriesen werden.

Hätte die Industrie nicht die Gentechnologie vor den funktionellen Lebensmitteln lanciert, wäre es für sie sicher einfacher gewesen, diese Zusatzstoffe nachträglich noch zu manipulieren und so zu verkaufen. Dies war sicher einer der wesentlichen Marketing-Fehler der Gentech-Industrie. So war die Entfremdung für die Menschen zu gross. Aber immer noch findet sich hier ein Einfallstor für die Gentechnologie. Es ist bestimmt auch kein Zufall, dass für beide Entwicklungen die gleichen Firmen zeichnen.

Koechlin: Das ist eine komplexe Diskussion. Der erste functional food war die Ovomaltine. Die hatte ich schon als kleines Kind sehr gern. In China gibt es alte Traditionen, wo der Apotheker noch Suppe herausgibt gegen Bauchschmerzen. Die Industrie springt hier geschickt auf und vermarktet Lebensmittel, damit wir geniessend gesund werden, statt immer Pillen zu schlucken.

Wissenschaftlich können viele Versprechen kaum eingehalten werden. Was beim Broccoli oder dem Apfel gesund ist, wird offenbar durch synergistische Effekte hervorgerufen. Es gibt also die zwei Wege: die Stoffe isoliert einzeln zugeben oder eine umfassendere Sicht auf die Vorgänge. Aber das Konzept des functional food wird uns noch Bauchschmerzen bereiten.

Functional food, wie er jetzt betrieben wird, hat aber mit Gentechnik bisher noch nichts zu tun, und ich sehe eigentlich nicht, wie diese behauptete Verbesserung vor sich gehen soll.

Sommaruga: Functional food wird uns eher kränker machen als wir es heute sind. Es fehlt, wie erwähnt, das Zusammenspiel der verschiedenen Stoffe. Functional food fördert zusätzlich die einseitige Ernährung. Und man kann sich im Übrigen ja auch an Vitaminen vergiften.

Pharma- und Agrobusiness bestehen wohl nicht zufällig aus den gleichen Firmen. Hier kommt es zu einem Kreislauf gesund machender Lebensmittel – Krankheit – gesundmachende Lebensmittel. Aber auch hier sehe ich eine Gegenbewegung, die sich gegen die Globalisierung richtet, gegen Machtkonzentration und Vereinheitlichung. Bei den Lebensmitteln wird es zum heftigsten Widerstand kommen, denn Lebensmittel widerstreben grundsätzlich der Globalisierung, nur schon wegen der Transportwege und der heutigen Frischemanie. SVP-Präsident Ueli Maurer hat gesagt, er esse nur Schweizer Lebensmittel. Das ist heute offenbar politisch eine wichtige Aussage, zeigt aber auch, wie unkritisch und naiv man hier ist. Immerhin wird deutlich, dass ein grosser Teil der Bevölkerung versucht, bei den Lebensmitteln der Globalisierung entgegen zu wirken. Es ist jedenfalls gut fürs Image, nur Schweizer Lebensmittel zu essen.

Ist functional food nicht auch einer Ideologie von Normalität verhaftet, die im Projekt des schon bei Geburt durchgerechneten und optimierten Menschen seinen Kulminationspunkt findet? Der "glücklich" ist unter wenig glücklichen Umständen?

Koechlin: Vielleicht. Die Herstellung des Kindes mit den besten Genen geht ja in eine ähnliche Richtung, wie wir sie bereits diskutiert haben. Mir scheint, dass dies aus der Warte der Industrie auch die einzig logische Konsequenz sein kann: Mit jeder neuen Technologie zu versuchen, das Unkontrollierbare weitestmöglich auszuschalten und die Abhängigkeiten der Abnehmer von den eigenen Produkten zu vergrössern. Gentechnik ist da geradezu prädestiniert, diese Kontrolle über die Lebensmittelgrundlagen der Welt, über das Leben selbst, zu vergrössern. Das geschieht mit Patenten oder mit den neuen Terminator-Technologien oder ein Stück weit auch mit der Pränatal-Diagnostik und den Gentests. Der kanadische Ethiker Brewster Kneen nennt dies die "Ethik des Abhängigmachens".

Sommaruga: Das macht mir ab und zu Sorgen. Für die Landwirtschaft und Lebensmittel bin ich optimistisch, dass wir uns wehren können. Bei der Medizin hat es hingegen die Industrie geschafft, die Gentechnologie mit Hoffnungen auf Heilung zu verbinden und den Begriff mit Fortschritt zu verknüpfen. Wahrscheinlich ist die Genschutz-Initiative genau daran gescheitert. Gerade in der Medizin wird uns die Gentechnologie mit ihren Erkenntnissen in enorme ethische Probleme stürzen. Und das alles passiert schleichend. Denn es ist schwierig, Widerstand gegen neue Erkenntnisgewinne zu leisten. Die Forschung kann man nur schwer einschränken. Das Denken will eigentlich auch niemand verbieten, und doch bringen diese Erkenntnisse auch neue Gefahren mit sich. Krankheit und Tod sind in unserer Gesellschaft stark tabuisiert, weshalb sich eine Kritik noch erschwert. Sorge bereitet mir auch die Mentalität der Gentechforschenden: Sie sind ausserordentlich weit von der Alltagsrealität entfernt. Sie denken oft in unglaublich engen Horizonten und nicht über ihr Fachgebiet hinaus, verändern aber schlussendlich unser ganzes Leben und unsere Denkweise.

Koechlin: Mir geht es ähnlich. Die grossen Risiken gehen heute wahrscheinlich von der Medizin aus, und dort tun wir sehr wenig. Für problematisch halte ich beispielsweise die aufkommende Gentesterei. Es spielt dann eigentlich keine Rolle, was bei den Resultaten tatsächlich haltbar ist. Hier gilt "what man defines as real is real in its consequences" (Was der Mensch als wirklich definiert, hat reale Folgen). Wenn nun Myriad billige Gentests zu Brustkrebs anbieten wird, wird das einen gewaltigen Boom auslösen und zu schweren ethischen Problemen führen. Unsere sorgfältigen Aufbauarbeiten werden damit ebenfalls in Frage gestellt. Zur Pränataldiagnostik haben wir beispielsweise erwirkt, dass es zu sorgfältigen Beratungen kommt, in London erhält man die auch übers Internet. Da habe ich grosse Befürchtungen.

Doch bei Landwirtschaft und bei Lebensmitteln müssen wir jetzt diese Aufbruchstimmung nutzen und jetzt versuchen, UNSERE Agenda durchzuziehen, UNSERE Vorstellungen einer nachhaltigen, modernen – und genüsslichen! – Zukunft zu verwirklichen. Das braucht all unsere Kräfte.

Florianne Koechlin ist Geschäftsführerin des Blauen-Institutes (www.blauen-institut.ch) und publiziert regelmässig zum Thema. Sie ist verantwortlich für die europäische Koordination "No patents on life!" Vgl. dazu: Florianne Koechlin (Hrsg.), Das patentierte Leben. Manipulation, Markt und Macht, 1998: Rotpunktverlag Zürich.
Simonetta Sommaruga  ist Nationalrätin (SP) und Präsidentin der Stiftung für Konsumentenschutz in Bern. Informationen unter: www.konsumentenschutz.ch.

oben.gif (951 Byte)

© MOMA 8031 Zürich

MOMA Home

Webbetreuung