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Redaktionsgespräch 6.2000

"Mitfahrgelegenheit" Antisemitismus

Über die hohe Funkionalität eines flexiblen Begriffs

Vermehrt wurde in letzter Zeit das Thema Judenfeindlichkeit in den Medien behandelt. Eine methodisch umstrittene Studie errechnete die Zahl von 16 Prozent der StimmbürgerInnen mit einer "Nähe zum typisch schweizerischen Antisemitismus". Die Zahl wurde als Schlagzeile zu "einer Million Antisemiten" in der Schweiz aufgebläht. Fast zeitgleich erschienen Berichte, die jüdischen Organisationen und deren leitenden Personen übermässige Kooperation mit den Behörden in der Zeit des Zweiten Weltkriegs vorwarfen. Was steht hinter diesen Berichten und Untersuchungen? Welche Funktion hat heute der Antisemitismus in der Politik? MOMA hat mit Jacques Picard, Josef Lang, und Shraga Elam über den gestrigen und heutigen Antisemitismus diskutiert.

MOMA: Die Bedeutung der GfS-Studie zum Antisemitismus in der Schweiz wurde medial verzerrend aufgebläht. Zudem wurde die Studie von verschiedensten Seiten auch methodologisch kritisiert. Was bedeutet aber überhaupt die Zahl von Antisemiten – je nachdem zwischen 7 und 16 Prozent - für die Schweiz heute? Ist der Antisemitismus hier zu Lande heute ein politisches Problem oder einfach ein überkommenes gesellschaftliches Vorurteil?

Shraga Elam: Zwei Dinge müssen wir unterscheiden. Es gibt eine grosse Zahl von Leuten, die Vorurteile gegenüber Juden haben. Diese Zahl schätze ich auf gegen 90 Prozent. Die Frage ist aber, wie gefährlich diese Situation ist, und ob die Vorurteile sich in tatsächlichen Handlungen gegen Juden niederschlagen können. Hier kann die GfS-Studie absolut keine Anhaltspunkte liefern.

Man darf zudem nicht nur auf die Leute hinweisen, die negative Vorurteile haben. Es gibt auch einen positiven Rassismus – heute vor allem im linken Lager. So identifizierten sich bis 1968 grosse Teile der Linken übermässig mit der jüdischen Situation. Danach ist diese Haltung bei manchen Linken zu einer übermässigen Identifizierung mit dem palästinensischen Freiheitskampf umgeschlagen. Ende der Achtzigerjahre fand erneut ein Umschwung statt. Heute konstatiere ich bei den Linken entweder Judeophilie oder eine völlige Verunsicherung, die dazu führt, dass man sich zu diesem Thema nicht äussert. Diese Entwicklung halte ich für gefährlicher als die Position der SVP, die ihre Feindbilder klar kommuniziert.

Josef Lang: Die 16 Prozent, welche die GfS-Studie errechnet hat, finde ich realistisch. Das entspricht meinen eigenen Erfahrungen. Mehr Mühe hatte ich mit der Behauptung, 60 zusätzliche Prozent der Bevölkerung seien teilweise antisemitisch. Was ich für die letzten Jahre feststelle, ist nicht so sehr ein Erstarken des Antisemitismus, sondern sein Wiederauftauchen. Die Auseinandersetzung um die Universelle Kirche im Kanton Zug – noch vor der Delamuraz-Rede – hat mich davon überzeugt, dass der Antisemitismus zwar weniger stark ist als befürchtet, der Anti-Antisemitismus aber schwächer als erhofft. Die Hälfte der LehrerInnen der Kantonsschule hat sich damals mit dem Rektor, einem Mitglied der Universellen Kirche, solidarisiert, um seine Absetzung zu verhindern. Die Universelle Kirche ist die schlimmste antisemitische Organisation der Schweiz, die ich kenne. Sie behauptet zum Beispiel, die Juden seien am Holocaust selber schuld. Mit der Delamuraz-Rede musste ich meine Ansicht nochmals ändern: Der Antisemitismus ist doch viel stärker als befürchtet.

Das Gewaltpotenzial des Schweizer Antisemitismus schätze ich als nicht hoch ein. Das hängt mit dem typisch helvetischen Antisemitismus zusammen: Bereits die alte Eidgenossenschaft war überdurchschnittlich judenfeindlich. Es ist ein Antisemitismus, der sich oft selbst verleugnet.

Rechte Parteien arbeiten mit verschiedensten Vorurteilen, aber es gibt keine, die direkt antisemitisch politisieren. Was ist denn die politische Bedeutung des Antisemitismus?

Jacques Picard: Der Begriff des Antisemitismus hat an sich bereits eine problematische Geschichte. Er verdankt sich der antisemitischen Bewegung der 1870er- und 80er-Jahre selbst, wurde dann mit biologistischen Bedeutungen aufgeladen und nach dem Ersten Weltkrieg von den Nationalsozialisten zu einem Ziel ihrer Politik gemacht. Nach 1945 erscheint der Begriff als Gegenstand einer wissenschaftlichen Kritik in der Antisemitismus-Forschung und hat sich auf diese Weise erhalten. Wissenschaftlich wie politisch stellt sich die Frage, was man unter Antisemitismus überhaupt verstehen will. Man kann ihn als Aspekt dem Rassismus zuordnen, aber darin eine Fortsetzung antijudaistischer Traditionen der Kirchen sehen. In den Sozialwissenschaften wird Antisemitismus unter der Vorurteils- und der Minderheitenforschung interpretiert und in einen gesellschaftspolitischen Zusammenhang gestellt. Der Begriff ist also einerseits deutlich genug konturiert, anderseits aber mit verschiedensten Verknüpfungen versehen. Aus diesem Grund halte ich die Bemerkung des Historikers Salo W. Baron, die er während des Eichmann-Prozesses machte, für fruchtbar. Geschichte sei ein "Tausendfüssler" und Antisemitismus in seiner politischen Bedeutung ein "Omnibus", auf dessen Trittbrett unterschiedlichste Funktionen und Meinungen mitfahren können, was Antisemitismus politisch verwertbar macht. Propagierung von Antisemitismus, aber auch Anspielungen und Kodierungen, die antisemitisch verstanden werden können, ohne explizit zu sein, bringen Funktionsprofite hervor. Konservative Eliten, die sich ihre Macht sichern wollten, verwendeten judenfeindliche Stereotypen aus anderen Gründen als zum Beispiel bäuerliche Kreise, die darin auf Stadt-Land-Gegensätze anspielen wollten. Nach 1945 erschien Antisemitismus durch zwei Umstände diskreditiert: die Existenz des Staates Israel und die Tatsache der Shoa. Israel-Aversion war zu einer Frage der Aussenpolitik geworden. Dagegen erschien nach der Shoah jeder Antisemitismus in der politischen Öffentlichkeit tabuisiert, womit paradoxerweise aber auch das Reden über den Holocaust erschwert wurde.

In den Medien herrscht eine Tendenz zu Alarmismus, der meist nicht sehr treffsicher ist. Wird heute dieses antisemitische Potenzial instrumentalisiert?

Elam: Wir kennen das antijüdische Potenzial der Schweiz aufgrund der erwähnten Studie nicht. Wird nun von einer Wiederholung gesprochen, muss auch die Entwicklung berücksichtigt werden. Was sich 2000 Jahre entwickelt hat, verschwindet nicht in 50 Jahren – auch Vorurteile nicht. Das ist nicht erstaunlich. Die grösste Bedrohung für Juden als Juden ausserhalb Israels ist heute weniger der Judenhass, sondern die Assimilation. Die GfS-Studie legt eigentlich dar, dass die Gefährdung für Fahrende oder Kosovo-Albaner grösser ist als für Juden.

Fragt man nach der Funktionalität von Vorurteilen gegenüber Juden, darf nicht einseitig argumentiert werden, Nicht nur mit Judenhass sondern auch mit der Judeophilie wird Politik betrieben. Nehmen wir die Erpressungs-Äusserung des damaligen Bundesrates Delamuraz. Von Verteidigern wie von Kritikern wurde sie enorm manipuliert. Zum Vergleich: Im September 1995 wurden Vertreter jüdischer Organisationen von der Bankiervereinigung und der Regierung sehr schlecht behandelt. Der "Tages-Anzeiger" hat dies mit antijüdischer Häme kommentiert. Darauf gab es keine Reaktion. Die Äusserung Delamuraz’ war hingegen harmlos und schien Vorurteile zu bestätigen, die auch in den Köpfen von Judeophilen stark vorhanden sind. Sachlich betrachtet war es ein Kampf um die nachrichtenlosen Konten, und die jüdischen Organisationen erpressten die Schweiz. Es entspricht nicht bereits einem antijüdischen Muster, wenn man sagt, es gebe erpresserische Juden. Es gibt erpresserische Juden, leider.

Lang: Wichtig war doch, was Delamuraz mit seiner Aussage ausgelöst hat. Er gab grünes Licht! Der typische Schweizer Antisemit braucht grünes Licht von einer autoritativen Instanz. Dabei gilt es zu unterscheiden zwischen einem ungebundenen Bekenntnis zu einem Antisemitismus, für das er den wesentlichen Teil einer Weltanschauung ausmacht, und den in eine grössere Weltanschauung eingebundenen Antisemitismus. Hier steht er neben einer ganzen Reihe von anderen Anti-ismen, mal an letzter, mal an erster Stelle. Der Antisemitismus ist daher in Zeit und in Funktion unheimlich flexibel. Dadurch wird ein Antisemitismus ohne Juden möglich, wie er in der Schweiz existiert. Das unterscheidet den Antisemitismus auch von Fremdenfeindlichkeit und Rassismus.

Die Langlebigkeit des Antisemitismus kann nur verstehen, wer die kulturellen Hintergründe beachtet und beispielsweise die Ungeheuerlichkeit des Gottesmordvorwurfes für die Christen begreift. Ein Schweizer Geistlicher hat 1945 gesagt, es sei schlimmer, Gott zu ermorden als Millionen Menschen. Eine ungeheuerliche Aussage, aber damit lässt sich besser verstehen, warum der Gottesmordvorwurf der Beginn des christlichen Antisemitismus, der Start des Christentums überhaupt ist. Das hat sich über Jahrhunderte in Wellen perpetuiert. In der Schweiz war der Antisemitismus vorwiegend christlich-nationalkonservativer Ausrichtung. Die Dominanz christlichen Denkens beim Antijudaismus zeigt sich auch am Beispiel des Schweizerkreuzes. Dessen Ikonografie ist tief in den Köpfen verankert, und unter dem Kreuz kann ein Jude nur eine schlechte Rolle spielen. Die Frage ist, ob das heute noch solche Wirkungskraft besitzt. Sicher spielt jedenfalls der Konnex zu nationalkonservativer Ausrichtung und SVP.

Elam: Es ist modern, die SVP anzugreifen und ich möchte sie nicht verteidigen. Aber viele Linke haben auch ihre Vorurteile gegenüber Juden. Das Problem liegt tatsächlich tiefer.

Wird sich der Antisemitismus für bestimmte Politiken als "Mitfahrgelegenheit" erweisen? Wie können wir damit umgehen?

Picard: Die eigene Herkunft und politische Position eröffnet immer einen spezifischen, an sich selbst gebundenen Blick auf das Thema. Damit wird der Umgang mit Antisemitismus auch zu einem Diskurs der eigenen Identitätsbefragung, indem notwendigerweise gesellschaftliche Entwicklungen aus einer eigenen Wahrnehmung begriffen werden. Die Funktion der Identitätsbefragung in Auseinandersetzung mit dem Antisemitismus hatte und hat Auswirkungen: Der Diskurs über Antisemitismus führt dazu, dass sich einzelne gesellschaftliche Eliten delegitimiert fühlen, wenn nicht nur historische Fragen zur Zeit vor 1945, sondern zur Geschichts- und Vergangenheitspolitik der 1950er- bis 80er-Jahre über die Zeit des Weltkriegs zur Disposition stehen. Es geht also um die Frage nach Bruch und Kontinuität, die durch ein neues Aushandeln von Bildern der Geschichte, in denen Antisemitismus Anteil erlangt, zum Ausdruck gelangt.

Elam: Mögliche Instrumentalisierungen der Debatte um Judenhass, auch die GfS-Studie, stehen in einem Zusammenhang zur Schweizer Geschichte. Bei deren Aufarbeitung gibt es gesellschaftlich gefährliche Mängel, da kann ich auch die Unabhängige Expertenkommission UEK nicht davon ausnehmen. Dabei ist eine sachliche Diskussion nicht möglich, weil von Kritikern wie Befürwortern das Thema sehr emotionsgeladen behandelt wird, auch von den Medien.

Welchen politischen Stellenwert haben der Antisemitismus und die Fragen, die wir hier ansprechen?

Picard: Ich halte es für wichtig, dass antisemitismusgeschichtliche und -soziologische Gesichtspunkte nicht unterschlagen werden. Eine Retabuisierung halte ich für unangebracht. Jedoch muss Antisemitismus heute in einer umfassenderen Konstellation gesehen werden und nicht als isoliertes Einzelphänomen. Seit dem Ende des Kalten Krieges zeichnet sich in den gesellschaftspolitischen Debatten zweierlei ab: Die vormals erlebte Polarisierung oder Zweiteilung der Welt weicht einer zunehmenden Vervielfältigung von Weltbildern und Deutungshorizonten, in denen unterschiedliche Zukunftserwartungen und darin auch kontroverse Geschichtserklärungen rezent werden. In Kontrast zum Reden über die Welt, über die Globalisierung, artikulieren sich gleichzeitig stark lokal gebundene Wahrnehmungen und Bewertungen von dem, was man heute "Weltgesellschaft" nennt. Wir beobachten dies in alpinen Lokalzonen, wie sie Haider verkörpert, genauso wie in urbanen Verhältnissen, in denen herkunftsgebundene Kulturen miteinander leben und kollidieren. In beiden Verhältnissen werden die feste Umgrenzungen und Zuschreibungen des "Anderen" fixiert, um sich jeweils "eigener" Identitäten zu vergewissern. In diesen gegenseitigen Fixierungsmustern ist die Analyse des Antisemitismus heute einzuordnen. Zumindest gilt dies für europäische Verhältnisse, auch wenn ungeklärt bleibt, woher, wie weit und wohin denn "Europa" in einem globalen Horizont überhaupt reicht.

Lang: Auch ich sehe sowohl das Wiederaufbrechen eines Antisemitismus wie auch die intensivere Diskussion um Flüchtlingspolitik und Antisemitismus im Zweiten Weltkrieg weniger vor dem Hintergrund der Nazigolddebatte, sondern im Rahmen einer helvetischen Identitätskrise. Die 90er-Jahre haben für die Schweiz drei wesentliche Änderungen gebracht: Das Ende des Kalten Krieges, das Ende des Sinns des Alleingangs und die endgültige Auflösung der sozialmoralischen Milieus. Das bringt eine unheimliche Verunsicherung. Setzen wir uns mit Antisemitismus oder den Nicht-Einbürgerungen in Beromünster, Emmen und Baar auseinander, dann müssen wir sie in diesen Rahmen einbetten. Auch der Schweizer Antisemitismus ist in diesen Rahmen eingebunden, daher benötigt er eine grössere Debatte über die Identität und Zukunft dieses Landes.

Elam: Für das Wiederaufbrechen des Judenhasses gibt es viele Gründe, genauso wie es viele Definitionen von Judeophobie gibt. Zu beachten ist dabei die zentrale Rolle der Affäre um die nachrichtenlosen Vermögen. Die Geschichtsaufarbeitung der Schweiz wurde von aussen aufgezwungen. Das ist nicht nur für die Schweiz typisch. Die meisten Systeme haben Mühe, irgendeine Art von dunklen Flecken zu verarbeiten. Den Zuwachs von Judenhass in der Schweiz sehe ich primär in diesem Kontext. Diese Bedrohung kann nur durch eine saubere Aufarbeitung aller Fakten bekämpft werden. Dabei müssen sich aber nicht nur die Schweizer kritische Fragen gefallen lassen, sondern beispielsweise auch jüdische Organisationen in den USA.

Einstellung der SchweizerInnen gegenüber Jüdinnen und Juden und dem Holocaust. Eine Studie des GfS-Forschungsinstituts im Auftrag der "Coordination intercommunautaire contre l’antisémitisme et la diffamation" (CICAD) und des "American Jewish Committee" (AJC), zu finden im Internet unter http://www.gfs.ch.

Die GfS-Studie wurde durch das KONSO-Institut kritisiert, das seinerzeit mit seinen eigenen Methoden auf ein Resultat von 7–9 Prozent Antisemitismus in der Schweiz kam. KONSO verlangt von der GfS, ihre Methodengrundlagen offenzulegen. GfS verteidigte seine Resultate. KONSO seinerseits war nicht imstande, die methodischen Grundlagen für seine Studien offenzulegen und zu begründen, weil sie nicht mehr greifbar waren. Ein weiteres ist die Interpretation der GfS-Studie durch die politische Öffentlichkeit sowie die Medien. Zur Debatte über die Studie vgl. auch: "Jüdische Rundschau" vom 23. und 30. März 2000.

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