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Redaktionsgespräch 2.2000

Output-Orientierung ist fragwürdig

Erfahrungen mit einer teilautonomen Schule in Zürich

Die Quartierschule Scherr liegt in Zürich-Oberstrass, am Fuss des Zürichbergs, einer privilegierten Wohnlage. Diese Schule ist ein Projekt im Rahmen der Volksschulreform, welche von der Zürcher Bildungsdirektion vorangetrieben wird. Franz Horváth hat sich dem Leiter der Schule, Jürg Walter, unterhalten.

MOMA: Seit im Kanton Zürich der CVP-Mann Ernst Buschor der Bildungsdirektion vorsteht, weht ein vom New Public Management angehauchter Reformeifer durch die hiesige Bildungslandschaft. Was spüren Sie davon an Ihrer Schule?

Jürg Walter: Bei uns in der Stadt Zürich wurde mit der Teilautonomen Schule schon 1993 begonnen, also bevor Buschor die Bildungsdirektion übernahm und solche Projekte dort auch initiierte. Es gab hier schon längere Zeit teilautonom geleitete Schulen: die Tagesschulen und die Schülerclubs. Wir im Schulhaus Scherr sind ein Schülerclub. Die Bildungsdirektion des Kantons hat die Quartierschulen der Stadt Zürich in das Projekt "TaV - Teilautonome Volksschulen" aufgenommen und bezahlt der Stadt dafür einen Beitrag. Die Stadt ist aber relativ autonom in der Ausgestaltung der Teilautonomen Volksschulen, und sie gestaltet diese eher aufwändiger als die Landgemeinden. Es gibt natürlich reiche Goldküstengemeinden, die noch grosszügigere Sachen finanzieren, das ist aber nicht die Regel.

Vom Reformwind spüren wir einzelne Teilprojekte, so zum Beispiel die neue Schulaufsicht, welche die Bezirksschulpflege ablösen soll. Dann eine Evaluation durch eine «outgesourcte» Evaluationstruppe, die auch die Quartierschulen in der Stadt unter die Lupe nimmt.

Die andern Sachen, die in der Teilautonomen Volksschule vorgesehen sind, wurden in der Quartierschule bereits eingeführt. Wichtig scheint mir zudem das Entstehen einer neuen Schulkultur, die von der Organisation von kulturellen Anlässen bis Integration von Horten und Kindergärten reicht. Da sind wir einen Schritt voraus.

In welchen Bereichen genau?

Viele Reformziele haben wir schon verwirklicht, so zum Beispiel die Elternmitarbeit und die Selbstevaluation des Schulteams. Das wichtigste an der ganzen Sache ist aber der Klimawechsel weg vom Einzelkämpfertum zum Schulteam. Wir sprechen heute von «unserer Schule», weil wir uns mit ihr identifizieren, und nicht nur von unserer Klasse. Da hat sich viel gewandelt.

Führt die Teilautonomie nicht einfach zu administrativem Mehraufwand, sodass schlussendlich weniger Zeit für die SchülerInnen da ist?

Nein, der Druck kommt nicht von da her. Das Problem liegt eher bei der Stadt, die neue Schulformen im Rahmen von alten Verwaltungsstrukturen verwirklichen muss. So haben wir etwa ein Globalbudget für unsere Schule. Wir können also selber wählen, ob wir anstelle eines Klassenlagers eine Projektwoche machen, oder anstelle der Projektwoche einen neuen Computer anschaffen. Aber beim Verbuchen beim Schulamt wird es bereits schwierig. Sie haben die alten Strukturen und Budgetvorgaben. Die Behörden- und Verwaltungsreform wurde vorläufig gestoppt. Es wird aber nicht sehr viel Administratives auf uns überwälzt, wie das vorgesehen war. Man hat gemerkt, dass dann die pädagogische Arbeit zu kurz kommt. Man ist da also einen Schritt zurück gegangen, bevor man ihn überhaupt gemacht hat. Es macht ja auch keinen Sinn, eine gut eingespielte Verwaltung in die Laienhände eines Schulleiters zu geben, der eigentlich andere Aufgaben hat.

Die Frage ist dann allerdings, wo eigentlich die Teilautonomie greift. Sie besteht vor allem darin, dass wir innerhalb der kantonalen Vorgaben den Kurs der Schule selbst bestimmen können. Wir setzen Schwerpunkte und entwickeln Projekte, aber unsere Autonomie stösst auch an Grenzen. Der Begriff täuscht da ein wenig und er wird auch falsch verstanden. Wir sind und wollen keine Privatschule sein.

Die Bildungsdirektion will zukünftig die Lehrplanziele der einzelnen Schulen stärker am sozialen Umfeld und den lernenden Individuen orientieren. Besteht nicht die Gefahr, dass sich je nach Umfeld und Quartier sehr unterschiedliche Schultypen herausbilden, welche die Chancenungleichheit noch verstärken?

Die Quartierschulen sollen auf das Quartier reagieren, das ist durchaus die Meinung. Dahinter verbirgt sich tatsächlich eine Gefahr. Es könnte eine Ungleichheit zwischen verschiedenen Schulen entstehen, was dem Prinzip der Volksschule widersprechen würde. Grundsätzlich ist es aber sinnvoll, dass eine Schule im Kreis 4 (Zürcher Stadtquartier mit hohem Ausländeranteil) auf der Ebene Schulstoff zum Beispiel intensiv Sprachunterricht und Kommunikation anbietet. Auf irgendeine Art müssen sie dort auf die Integration hinarbeiten.

Andererseits ist es sinnvoll, dass wir, in einem Quartier, wo die Schüler schon zu Hause sehr stark intellektuell gefordert werden, mehr Gewicht auf das Musische und Soziale legen. Wir müssen keine Hyperkurse für die bereits begabten Schüler anbieten, sondern versuchen ihnen dasjenige zu bieten, was ihnen fehlt.

Die Gefahr besteht aber, dass sich eine Schule als Schnellzug versteht und Dampf gibt. Der Druck und die Erwartungshaltung der Eltern wurde geweckt. Das kann ich aufgrund der Erfahrungen in diesem Quartier bestätigen und dem muss man auch standhalten. Die Eltern denken zum Teil, sie bekämen jetzt alles, was sie wünschen. Das ist natürlich nicht das Ziel. Die PädagogInnen müssen entscheiden, was die Kinder brauchen.

Können Sie diesem Druck gerade in einem Quartier, wo viele Privilegierte leben standhalten?

Ja, wir stehen eigentlich in einem guten Einvernehmen mit der Elternvertretung. Aber der Druck ist unübersehbar und er wird stärker. Durch die Reformen wurden zum Teil übersteigerte Erwartungen und Wünsche geweckt, die nicht realistisch sind. Beispielsweise hat sich eine Mutter mit einem Kind in der ersten Klasse bereits beklagt, dass ihr zweifellos begabtes Kind nicht am Englischkurs für Kinder ab der dritten Klasse teilnehmen darf. Solche Eltern weichen auf private Anbieter aus, die teure Förderkurse anbieten.

Wie steht es denn mit der Schülerpauschale, welche die Bildungsdirektion einführen will? Führt diese nicht zu Schulen verschiedener Qualität?

Buschor sieht vor, dass die Schülerpauschale 2003 eingeführt wird. Dann bricht der Konkurrenzkampf los. Viele SchülerInnen heisst viel Geld, und das heisst mehr Möglichkeiten. Ein Schulhaus mit schlechtem Ruf bedeutet wenig SchülerInnen und wenig Möglichkeiten. Das ist eine heikle Sache.

Wird diese Problematik von der Bildungsdirektion nicht wahrgenommen?

Das ganze Pferd hinkt natürlich, weil die Eltern keine freie Schulwahl haben. Aber bereits jetzt werden in diesem Quartier massenhaft Zuteilungsgesuche für bestimmte Schulhäuser gestellt. Unser Schulhaus, welches eine Tagesstruktur anbietet, ähnlich wie eine Tagesschule, hat grossen Zulauf und viele Gesuche. Es gibt sogar Eltern, die sich eine Wohnung in der Nähe eines bestimmten Schulhauses suchen, weil sie nur so die Zuteilung zu diesem Schulhaus erreichen können. Die Klassengrössen variieren aus diesem Grund von Schulhaus zu Schulhaus sehr stark, zwischen 15 und 25 SchülerInnen pro Klasse. Ich habe schwere Bedenken, dass die Schülerpauschale diese Entwicklung noch verschärft. Eigentlich kann man aber die Schülerpauschale nicht ohne eine freie Schulwahl einführen, weil sonst der Druck auf die Kreisschulpflege riesengross wird. Diese muss sich dann mit Gesuchen und Rekursen herumschlagen, ebenso die Bezirksschulpflege, die Bildungsdirektion, der Bildungsrat und letztlich sogar der Regierungsrat. Soweit gehen die Rekurse für Zuteilungsgesuche. Dadurch würde der Apparat noch mehr aufgebläht.

Ein weiteres Ziel der Bildungsdirektion ist die Professionalisierung der Schulaufsicht und die Evaluation. Ist das nicht - wie teilweise kritisiert wird - Arbeitsbeschaffung für neue BildungsbürokratInnen?

Wir müssen hier zwischen der Kreis- beziehungsweise Gemeindeschulpflege und der übergeordneten Bezirksschulpflege unterscheiden. Die Gemeinde- und Kreisschulpflege wird in dem Sinn professionalisiert, als sie eine Ausbildung bekommt, wo es um die lohnwirksame Einstufung von Lehrkräften geht. Das kann nur von Gutem sein, weil die meisten ja Laien sind. Die Bezirksschulpflege soll in Zukunft nur noch als Rekursinstanz dienen und keine Schulbesuche mehr machen. Mit ihr haben wir sehr unterschiedliche Erfahrungen gemacht. Die einzelnen VisitatorInnen waren von sehr kompetent bis absolut inkompetent. Mit dem Modell, welches jetzt erprobt wird, der so genannten neuen Schulaufsicht, habe ich noch keine persönlichen Erfahrungen gemacht. Von Kollegen habe ich aber gehört, dass das eine sehr engagierte Sache sei. Ein interdisziplinär zusammengesetztes Team aus Fachleuten untersucht eine Schule mit zum Teil sehr unkonventionellen Mitteln. Beispielsweise begleiten sie einen Tag lang ein Kind im Hort, auf dem Pausenplatz, von der Schulstunde bis zum Ergänzungsunterricht. So wird der Schultag aus der Optik eines Kindes beobachtet, was ich eine gute Idee finde.

Die Sache wird dadurch zwar aufwändiger. Sie soll aber nur noch alle vier Jahre stattfinden. Ich glaube, diese neuen Ideen sind brauchbarer als die alten Schulbesuche, die oft sehr dürftig gewesen sind. Bei der neuen Schulaufsicht werden mehr Betroffene einbezogen. Deren Rückmeldungen können wertvoll sein.

Sie teilen also die Skepsis gegenüber der neuen Bildungsbürokratie nicht?

Nicht generell. Natürlich gibt es auch in diesem Feld Scharlatane, die zu hohen Tagesansätzen viel warme Luft produzieren. Ob jemand etwas von Schule versteht, stellt sich aber relativ rasch heraus. Die externe Evaluation des TaV-Experiments ist zum Beispiel wichtig, um noch Kurskorrekturen vornehmen zu können. Das ist nach meinen Erfahrungen mit Herr Buschor auch möglich.

Bei Evaluationen ist immer die Frage, was deren Ziel ist. An welchen Qualitätsmassstäben sollten die Schulen nach ihrer Meinung gemessen werden?

Grundsätzlich müssen natürlich die traditionellen Kerninhalte der Schule enthalten sein: Stoffinhalt und Methode. Daneben setzen wir Jahresziele. Am Ende des Jahres müssen wir uns immer wieder fragen, was wir erreicht haben und wo oder wie noch etwas verbessert werden kann. Neben die Unterrichtsqualität setzen wir einen musischen Schwerpunkt und einen bei der Erziehung. Letztere geht ja immer mehr unter. Die Eltern leisten immer weniger und in den Klassen wird es schwieriger. An der Schule erarbeiten wir gemeinsame erzieherische Standpunkte und versuchen sie auch umzusetzen. An diesen Leitbildern können wir uns messen, und an ihnen kann sich auch ein externer Evaluator orientieren.

Sich diese Ziele selbst setzen zu können, ist ein wichtiger Bestandteil der Teilautonomie.

Wird dadurch die Belastung der Lehrenden erhöht?

Ein durchschnittliches Schulhaus sah früher so aus, dass jeder seine Arbeit machte, vielleicht sich zusammen mit einem Kollegen oder einer Kollegin vorbereitete. Teamarbeit war aber eher die Ausnahme. Wir machen Projektwochen, Schulfeste, einen Velotag, und wir schreiben einen Jahresbericht. Das braucht Sitzungen und Gedankenarbeit. Schulqualität hängt in grossem Mass davon ab. Diese Dinge bringen uns weiter, aber sie bedeuten eben auch sehr viel Arbeit. Zu gewissen Zeiten kommt man damit an die Grenze der Belastung.

Die Bildungsdirektion spricht in diesem Zusammenhang von einer Veränderung des Berufsauftrags der Lehrpersonen. In welche Richtung verändert sich das Berufsbild der LehrerInnen?

Über die Schule wird diskutiert und geschrieben. Die Schule steht nicht nur im Fokus, sondern auch im Schussfeld. Sie soll alles leisten, was die Gesellschaft nicht (mehr) leistet. Lehrpersonen sind heute öffentliche Figuren. Bei keinem andern Beruf nimmt so stark nicht nur der Vorgesetzte, sondern die ganze Öffentlichkeit Anteil am Produkt. Oder wie man heute sagt: an der Qualität des Outputs... Die Gefahr besteht, dass einzelne Schulen darauf mit einer PR-Show reagieren.

Das Berufsbild verändert sich insofern, als neben das Kerngeschäft immer mehr Nebenaufgaben treten. Darum kommt heute niemand mehr herum.

Sie haben die Output-Orientierung erwähnt. Droht diese nicht andere Bildungsziele zu verdrängen?

Wenn ich Herrn Buschor höre, habe ich grosse Bedenken, weil er eigentlich kein Menschenbild hat. Er will offenbar nur Leute heranziehen, die der Wirtschaft gut tun. Ich finde es schockierend, dass er auf die Frage nach seinem Menschenbild mit dem Stichwort Internet antwortet. Da hat er ein grosses Defizit.

Eine Output-Orientierung in der Schule finde ich unsinnig. Das Schulhaus Scherr danach zu evaluieren, wieviel Akademiker es produziert, obwohl man weiss, welche anderen Faktoren da hineinspielen, ist unmöglich. Wenn Herr Buschor dieses Projekt weiterverfolgt, rennt er einem Hirngespinst nach. Aber zum Glück gibt es in der Bildungsdirektion noch andere Leute, denen der Chef offenbar manchmal auch Gehör schenkt.

Vielen Dank für das Gespräch!

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