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Redaktionsgespräch 9.99  mit Marianne de Mestral (Bildungs- und Sozialarbeit, SP-SeniorInnenliste Kanton Zürich), Karl Aeschbach (ehem. Gewerkschaftssekretär, ebenfalls SeniorInnenliste Kanton Zürich) und Felix Mattmüller (langjähriger Präsident der Grauen Panther und Pantherinnen Basel)

Eine ganz unglaubliche Freiheit

Wie soll die Linke ältere Menschen ansprechen?

In den letzten Monaten und Wochen ist das Thema Alterspolitik in den Medien recht präsent. Einerseits durch verschiedene SeniorInnen-Listen im Hinblick auf die Wahlen, aber auch durch die Vereinnahmung älterer Menschen. Ein Beispiel gibt die Steuergesetzgebung im Kanton Zürich. Die SVP behauptet, sich für die Interessen älterer Menschen stark zu machen, stützt gleichzeitig eine Politik, welche die Möglichkeiten älterer Menschen wieder einschränkt. Die Linke scheint dagegen kein Gegenrezept zu entwickeln.

Was macht die Linke, die sich immer sehr stark – zum Beispiel bei der AHV – für die Alten eingesetzt hat, falsch, oder anders: Worin liegt der Erfolg der SVP, und wo müsste die Linke zulegen?

Marianne de Mestral: Die Frage muss lauten: was macht die SVP anders? Die SVP greift Schlagworte auf, profitiert von Verunsicherungen. Schlagworte sind wie Holzschnitte, sie sprechen Menschen unmittelbar an. Gerade ältere Menschen wahrscheinlich mehr als jüngere. Es ist auch eine Frage der Werbestrategie und des Geldes, aber nicht nur das; ältere Menschen suchen unter schnell verändernden Bedingungen vermehrt nach Richtlinien. Die technologische Entwicklung, die beispielsweise mein Vater erlebt hat, war generationsspezifisch und noch überblickbar. Die Entwicklung in den letzten 15 Jahren hinsichtlich Kommunikation, Gesellschaftspolitik, Wirtschaft, Arbeitsmarkt ist dermassen enorm, dass ich selber anfange, zu zweifeln. Ich selber bin mit meinen über 60 Jahren noch aktiv im Berufsleben, und bemerke, dass ich mit vielen Veränderungen kaum Schritt halten kann, obschon ich mitten drin stehe und gerne Neues lerne. Ich stelle mir vor, dass es noch älteren Menschen, die vom Arbeitsleben abgekoppelt sind und viel Zeit zur Verfügung haben, noch schwieriger fällt, sich hier zurecht zu finden. Für sie offeriert die SVP-Propaganda ein Geländer, an dem sie sich festhalten können.

Karl Aeschbach: Gegenüber den von Marianne erwähnten rasanten Veränderungen gibt es für den älteren Menschen im Grunde genommen zwei mögliche Arten, sich zu verhalten. Er stellt sich auf diese Entwicklung ein und versucht mit ihr Schritt zu halten. Oder er hat irgendwann das Gefühl, er versteht die Welt nicht mehr und koppelt sich allmählich ab. Ich habe auch den Eindruck, dass die Welt der älteren Menschen heute gekennzeichnet ist durch diese beiden Entwicklungsmöglichkeiten. Wir haben auf der einen Seite eine Seniorenbewegung, die in den letzten zehn bis zwanzig Jahren entstanden ist und sich immer mehr bemerkbar macht, neu auch in der Politik. Das faktische Rentenalter ist ja gesunken, man geht früher in Pension; daraus ergibt sich eine jüngere Generation von RenterInnen. Sie sind aktiv und möchten sich beteiligen. Das ist die positive Seite. Daneben gibt es viele ältere Menschen, die die Welt nicht mehr verstehen: Krieg, Hunger, Armut; alles Probleme, die das Fassungsvermögen übersteigen. Hat man in der eigenen Gesellschaft auch noch das Gefühl, dass viel fremde Einflüsse eindringen, ist die Überforderung nicht mehr weit.

Geht es nicht auch Jüngeren so? Und Ältere stimmen trotzdem noch eher ab. Diese Orientierungslosigkeit scheint nicht nur altersspezifisch zu sein.

Aeschbach: Die Position des älteren Menschen wird durch die Entwicklung entwertet. Ältere Menschen haben ausserhalb der Familie ihre gesellschaftliche Bedeutung verloren. Die SVP weiss diese Frustrationen und Ängste zu nutzen.

De Mestral: Aber sie haben sie erkannt! Ich meine, dass wir in der linken Szene uns immer mehr politischen Zielsetzungen verpflichtet fühlten und weniger der persönlichen Befindlichkeit. Hier haben wir etwas verpasst. Die Ängste älterer Menschen haben wir zu wenig ernst genommen. Der Esoterik- oder der Psycho-Boom gingen letztlich an der Linken vorbei, aber wir haben dadurch natürlich eine Lücke. Gesundheit und Prävention wurden gross geschrieben, die Menschen leben länger, aber diese Lebensspanne ist mit gesellschaftlichen, politischen Inhalten wenig gefüllt.

Felix Mattmüller, die Grauen PantherInnen vertreten erfolgreich die Interessen älterer Menschen auf eine nicht populistische Weise. Was macht euern Erfolg aus?

Felix Mattmüller: Ich muss 13 Jahre zurückgehen. Damals wurde mir klar, dass man nicht "aus dem Stand" in der Alterspolitik Verbesserungen entwickeln kann. Beim Aufbau haben wir im 13-köpfigen Vorstand der Grauen Panther und Pantherinnen Baselland, Baselstadt, Regio (neun Frauen, vier Männer) sehr rasch erkannt, dass es sich bei uns Alten vornehmlich um "kleine Leute" handelt, die während ihres beruflichen Lebens nicht lernen konnten, Widerstand gegen Ungerechtigkeiten zu leisten, da sie sonst ihre Stelle verloren oder Lohnkürzungen hätten in Kauf nehmen müssen. Mit diesen alten Menschen zusammen wollten wir die neu gewonnene "Altersfreiheit" nutzen, um eine gerechte Verteilung der gesellschaftlichen, politischen, finanziellen, kulturellen und bildungsmässigen "Lebensmittel" für alle zu erreichen. In wenigen Jahren wuchs die Mitgliederzahl auf 1500 an. Uns war klar, dass wir uns laufend über die soziale Gesamtsituation informieren müssen. Daraus entwickelten wir einen politischen Forderungskatalog.

Die SP ist zwar unter den traditionellen Parteien in der Alterspolitik noch immer am glaubwürdigsten. Es gelingt ihr aber kaum mehr, "die kleinen Leute" und den Mittelstand anzusprechen. Daher kann die SVP die Alten mit leeren Schlagworten fangen. Dagegen hat die traditionell soziale SP noch keine Gegenstrategie entwickelt. Wenn es darum geht, "die Welt zu verändern, statt sie zu interpretieren", respektive auf hohem Niveau lediglich darüber zu diskutieren, können die "gewöhnlichen Leute" nicht mithalten und fühlen sich von den Intellektuellen nicht verstanden. Sie haben es verlernt, für bessere Lebensbedingungen und für solidarische Verhalten zu kämpfen.

Wir haben bei den Grauen Panthern Mitglieder aus allen Parteien. Wir wollen eine Bewegung bleiben und Menschen aller Parteien bei uns haben, die guten Willens sind, die Lebensbedingungen von Alten und Jungen (Mitgliedschaft ab 18 Jahren) zu verbessern. Wir verurteilen die Konfrontation zwischen Alten und Jungen. Darunter leiden wir alle, weil es FDP und SVP gelingt, die Jungen dauernd gegen uns aufzuhetzen mit dem Slogan, die reichen Alten sollten auf die AHV verzichten. Sie sehen nicht, dass dieses einzigartige solidarische Sozialwerk unser Land zusammenhält.

Willi Ritschard hat gesagt, "ein armer Staat kann kein sozialer Staat sein". Dieser Slogan wird jetzt gegenüber den Schwachen rücksichtslos benutzt, um zu sagen, alle müssen sparen helfen. Und die Sparbereitschaft bei den Alten ist enorm, denn irgendwie fühlen wir uns immer schuldig. In unserem Land ist weiss Gott genügend Geld vorhanden. Es ist allerdings höchst ungerecht verteilt. Deshalb lautet unser Credo: "Nur ein gerechter Staat kann ein sozialer Staat sein". Wir haben in unserer Bewegung nicht nur diskutiert, sondern seit Jahren am Kampf teilgenommen mit den Gewerkschaften gegen Stellenabbau und Arbeitslosigkeit, für AHV-Alter 62, gegen Chiracs Atombombe. Zusammengeschlossen sind wir durch Kollektivmitgliedschaften mit Mieterverband, VPOD, VCS, Altersgewerkschaft, Antiatombewegung. Gemeinsam sind wir stärker und erreichen so etwa 30’000 Menschen. Das zeigt Wirkung: Bei den letzten Grossratswahlen haben wir 60 Mitglieder aus allen kantonalen Parteien empfohlen und 40 sind gewählt worden.

Im Kanton Zürich stellen SP und SVP SeniorInnenlisten auf. Es stellt sich die Frage, wie SP, aber auch Gewerkschaften, die Älteren organisieren wollen. Gibt es im Bereich der Älteren überhaupt eine längerfristig angelegte Basisarbeit?

De Mestral: Die SP des Kantons Zürich hat die Zeichen der Zeit schon vor der SVP-SeniorInnenliste erkannt. Seit längerer Zeit gibt es Gruppierungen, zum Beispiel in der Stadt Zürich. Ich erlebe auf der SeniorInnenliste etwas wieder, was ich vor fast 30 Jahren bei meinen ersten politischen Einsätzen für Frauenanliegen erfahren habe. Damals hiess es, aha, du bist eine Emanze, jetzt heisst es, aha, ihr geht im Altersteich fischen. Ich arbeite wieder bei einer "Randgruppierung" mit, die aber notabene sehr stark ist. Es wird seine Zeit dauern, eine solche Bewegung zu entwickeln und einiges auszuprobieren. Es ist jedenfalls noch keine politische Gruppierung vom Himmel gefallen. Ob bei uns so etwas wie die Grauen Panther in Basel möglich wäre, weiss ich nicht. Ich erlebe ältere Menschen nicht als einheitliche Schicht; ich wünsche mir, dass sie in den Gruppierungen, zu denen sie gehören, eine entsprechende Arbeit leisten können. Dass ich in dieser Richtung etwas unternehme, empfinde ich als spannend. Es ist so etwas wie ein déjà-vu, auch die Frauenbewegung ist über die Jahre stark geworden, mit den Alten wird es nicht anders sein.

Gilt Ähnliches für die Gewerkschaften?

Aeschbach: Bei den Gewerkschaften sind etwa ein Fünftel SeniorInnen. Sie bleiben normalerweise Gewerkschaftsmitglieder, nur eine Minderheit gibt die Mitgliedschaft auf. Eine Rentnergruppe gibt es an sich in jeder Gewerkschaft, dort wird in erster Linie das kollegiale Beisammensein und weniger das Politische gepflegt. Aber die Strukturen sind vorhanden und man kann Informationen über diese Kanäle verbreiten.

Um den Bogen zu machen zu unserer AG Alter: Ausgangspunkt war die Feststellung, dass es in keiner Partei eine kontinuierliche Alterspolitik gibt. Aus dieser Überlegung heraus haben wir vor zwei Jahren diese AG gegründet. In der Stadt ist das schon 1991 der Fall gewesen mit den städtischen SP-Seniorinnen und Senioren, die man auch eher als Basisgruppe betrachten kann. Für die kantonale AG war die Idee die einer Lobby, die Grundlagenarbeit für die Parteigremien und die Kantonsratsfraktion leisten soll. Wir verstehen uns also nicht einfach als Wahlverein. Diese Liste ist für uns auch ein Vehikel, um unsere Arbeit bekannt zu machen und zu verbreiten.

Die Bemerkung von Marianne de Mestral, sie sei als Frau und als Seniorin Teil von zwei Randgruppen, ist aufschlussreich. Sind die Alten denn tatsächlich eine Randgruppe für die SP, die sich ja sehr für deren Anliegen eingesetzt hat? Lange Zeit hat die Formel "Arm gleich Alt" ja gestimmt, und die AHV ist nicht zuletzt auf die Bemühungen der SP zurückzu- führen. Wie kann die etwas abschätzige oder ironische Haltung der SP erklärt werden?

De Mestral: Ich weiss es nicht. Aber ich habe mir überlegt, wie ich mich früher zu den Älteren gestellt habe. Als ich von 1980 bis 1990 in der Geschäftsleitung der SP Kanton Zürich war, wurde einmal über die "Überalterung" der Partei diskutiert, das Durchschnittsalter sei 70 Jahre. Ich habe damals gesagt, wenn ich einmal 70 bin, dann trete ich aus, dann sinkt das Durchschnittsalter wieder etwas. Kurz bevor ich 50 Jahre alt war, habe ich auch nobel beschlossen, ich will nicht den Jungen die Liste blockieren, ich mache Jüngeren Platz. Und jetzt finde ich mich doch wieder auf einer Nationalratsliste. Ich finde es richtig, irgendwann neuen Kräften Platz gemacht zu haben, aber die Verbindung der verschiedenen Politgenerationen ist ganz klar mangelhaft. Mein Eindruck ist, dass mit dem auch in der Politik spürbaren Jugendlkult zu viel Rücksicht auf vermeintliche Ansprüche der WählerInnen genommen wird.

Das Stichwort "Überalterung" ist gefallen. Durch die Tatsache, dass Menschen älter werden und die Nichterwerbstätigkeit immer längere Zeit im Leben dauert, stellt sich die Frage immer dringlicher, was mit dieser Zeit angefangen werden könnte.

De Mestral: Ich habe bald keinen Arbeitgeber mehr, der mir dreinredet, habe keine Arbeit zu verlieren oder eine Lohneinbusse zu fürchten – ich habe bald eine ganz unglaubliche Freiheit. Ich bin auf der SeniorInnenliste, um klarzumachen, dass wir Alten noch etwas bieten können. Der Schritt von meiner Bürotür führt nicht direkt ins Altersheim, es liegt hoffentlich noch viel aktive Zeit dazwischen, die ich zum Wohl der Gesellschaft nutzen kann, ohne auf einen Lohn direkt angewiesen zu sein.

Was Ruth Dreifuss die "Chance der späten Freiheiten" nennt. Vielleicht müsste sich die Linke nicht nur um die materiellen Grundlagen des Alters kümmern, die sicher wichtig sind, sondern auch um die Sinnfrage, die im Alter sehr wesentlich wird?

Aeschbach: Die SP und Gewerkschaften haben sich immer um die soziale Sicherheit gekümmert, aber das wirkt sich heute nicht mehr aus. Das hängt damit zusammen, dass sie sich für, aber nicht mit den Betreffenden dafür eingesetzt haben. Betrachtet man die Basisgruppen, die sich spezifisch mit RentnerInnen auseinander setzen, gibt es neben den Grauen Panthern noch die Avivo. Sie hat 30’000 Mitglieder, ist aber in der Deutschschweiz fast inexistent. In der Deutschschweiz gibt es solche Basisorganisationen eigentlich nicht.

Zu den nicht-materiellen Bedürfnissen: Ich war im SGB-Sekretariat mehrere Jahre zuständig für die Rentnerkommission. Im Kontakt mit anderen Organisationen habe ich erkannt, dass Alterspolitik für Bundesrat, Parlament, Gewerkschaften und andere vorwiegend definiert wird über Sozialversicherung: AHV, zweite Säule, Kranken- und Invalidenversicherung. Andere Fragen werden nicht aufgegriffen. Kennzeichnend ist diesbezüglich, dass es im Bund eine eidgenössische Jugend- und eine eidgenössische Frauenkommission gibt, aber keine Alterskommission. Der freisinnige Nationalrat Allenspach hat am Schluss seiner Karriere noch gefordert, es sei eine Alterskommission einzurichten. Das war, als er selber alt geworden ist. Der Bundesrat hat geantwortet, das sei nicht nötig, es gebe genügend Expertenkommissionen. Unsere Gründung der AG Alter kam aus dieser Überlegung, dass wir nicht nur die materiellen, sondern auch andere Fragen berücksichtigen wollen, beispielsweise die Freiwilligenarbeit.

Mattmüller: Ich muss natürlich darauf hinweisen, dass die SP nicht mehr so stark für die AHV/IV kämpft. In Artikel 34quater Absatz 2 der Bundesverfassung heisst es: "Die Renten sollen den Existenzbedarf angemessen decken". Wie wird diese Existenzsicherung von der SP betrieben und als glaubwürdig propagiert? Vergessen wird dabei, dass die Hälfte unserer Bevölkerung keine Pensionskasse hat, in vielen Fällen Teilzeit arbeitet, dass also sehr viele mit einer Minimalrente von 1005 Franken auskommen müssen. Die Ehepaarrente ist etwa doppelt so hoch. Alles, worauf sie darüber hinaus Anrecht hätten, empfinden die Betroffenen als unwürdige Bettelei. Baselstadt spart zweistellige Millionenbeiträge ein, weil Ergänzungsleistungen nicht beantragt werden. Wir haben daher die These der umgekehrten Beweislast: Der Staat muss beweisen, dass alle Leute, die Anspruch auf Ergänzungsleistungen haben, diese auch bekommen. Die Berechtigten müssen zu einem Gespräch eingeladen werden. Die jetzige Bettelei hilft den Betroffenen nicht, dafür spart der Staat – dem ist's natürlich recht.

Weiter hätten sich Gewerkschaften und SP wehren müssen für diese existenzsichernde Rente ohne Bittgänge. Existenzsichernd bedeutet 3500 Franken für eine Person. Auf diese Summe kommt man rasch: 1500 Franken Miete, 1000 Franken für Verpflegung, und noch 1000 Franken für sonstige Dinge wie Krankenversicherung, Freizeit, Ferien usw. – ohne in Luxus zu leben.

Aeschbach: Nominal und effektiv sind die AHV-Renten bedeutend höher als früher; aber ich denke, es ist eine linke Krankheit, dass wir uns immer gegenseitig kritisieren. Kürzlich habe ich in der "Zeitlupe", der Zeitschrift von der Pro Senectute, einen Beitrag von Walter Seiler gelesen. Der ehemalige Vorsteher des Bundesamtes für Sozialversicherung und jetzige Präsident des Rentnerverbandes hat dort seine Meinung über die AHV geäussert. Er glaubt nicht daran, dass die AHV mit dem Umlageverfahren noch überlebensfähig sei. Im Prinzip sollte das ganze System auf die zweite Säule umgestellt werden: Jeder spart für sich selbst sein Kapital. Das ist eine totale Absage an alle Solidaritätsgedanken in der Sozialversicherung. Es gibt ja nicht nur linke Altersgruppierungen, sondern auch relativ starke Verbände, wie eben den Rentnerverband, die politisch rechts stehen. Dieser hat den Vorteil, dass er relativ viele Kollektivmitglieder besitzt, ganze Firmen schreiben sich bei ihm mit ihren Pensioniertenvereinigungen ein. Diese machen immer mehr eine ausgeprägt rechte Politik.

Der Altersforscher François Höpflinger hat in einem Interview gesagt, es sei für die Sozialversicherung vermehrt mit starken Verteilungskämpfen zu rechnen und dabei könnte sich Protestpotenzial bilden. Wie seht ihr das?

Mattmüller: Er spricht von Kämpfen. Aber niemand will heute mehr kämpfen, besonders die Jungen nicht. Denen ist alles in den Schoss gefallen, aber die werden auch noch auf die Welt kommen, wenn sie sehen, dass mit der Deregulierung alle Werte, die sie im Hinblick auf ihre Familien hochhalten, durch die rücksichtslose Vereinzelung im Berufsleben, die bei Richard Sennett gut beschrieben ist, zerstört werden (vgl. R. Sennett, Der flexible Mensch). Nur wenn es uns gelingt, den Widerstand breiter Gruppierungen wieder aufzubauen, können wir etwas gegen Sozialabbau, Globalisierung und Ausbeutung von Mitbestimmung tun.

De Mestral: Der Verteilkampf hat bereits begonnen. Ich bin im lokalen Spitexverein tätig und stelle fest, dass viele Menschen sich die Spitex nicht mehr leisten können, in ihrer Wohnung fast verelenden, und gegen ihren Willen in ein Altersheim kommen – ohne damit etwas gegen Altersheime zu sagen. Sie können sich eine private Hilfe nicht mehr leisten; wer auf Rosen gebettet ist, kann sich hingegen einiges leisten. Das ist eine schleichende Entwicklung. In diesem Verteilkampf zerren nicht zwei am gleichen Tischtuch, sondern er findet innerhalb der eigenen vier Wände statt, unbemerkt von der Umgebung, was sich eben auch darin äussert, dass viele Sozialleistungen nicht beansprucht werden.

Aeschbach: Auf einer allgemeineren politischen Ebene ist dieser Kampf schon seit Jahren im Gange. Die Neunzigerjahre sind geprägt durch eine gezielte Verunsicherungskampagne gegen den Sozialstaat und die AHV im Speziellen. Die Kampagne ist tief ins öffentliche Bewusstsein eingedrungen. Heute gibt es eine Basis, von der aus man eine eigentliche Abbaupolitik angehen kann. Vor zehn, fünfzehn Jahren wäre ein frontaler Angriff auf die AHV nicht möglich gewesen. Heute ist das der Fall. Der Kampf um die Mutterschaftsversicherung hatte nichts mit Mutterschaft zu tun; das war ein gezielterAngriff auf den Sozialstaat, der zu weiterem Abbau benutzt wird.

Wo können wir Positionen aufbauen, nicht nur jammern, sondern auch handlungsfähig werden?

De Mestral: Der Kopf ist rund, damit die Gedanken die Richtung wechseln können. Neben klar alterspolitischen Forderungen sollten wir auch durchbringen, dass sich ältere Menschen nicht mehr als Opfer erkennen, sondern als Handelnde. Nur wie ändern wir die Richtung? Wir stehen noch am Anfang. Eine SeniorInnenliste mit 34 Leuten im Kanton Zürich ist hier ein erster Schritt.

Mattmüller: Ihr habt jetzt bei der SP-SeniorInnenliste mit 34 Leuten eine gute Startchance. Kommen diese Leute auch noch nach den Wahlen wieder regelmässig zusammen, ist ein Anfang für eine nachhaltig organisierte Bewegung gegeben.

Organisiert ihr bei den SeniorInnen alle alten Menschen oder eine soziale alte Unterschicht (etwa ein Fünftel aller Alten)? Oder sind die Alten schon fast eine eigene Kategorie, die man organisieren kann wie ein Klasse, was bei den Grauen Panthern zum Ausdruck kommt?

Mattmüller: Wir können den Widerstand organisieren und Forderungen stellen. Dazu gehören: existenzsichernde Rente, keine Bittgänge wegen Ergänzungsleistungen, eine gerechte Verteilung der Mittel – das wären schon drei Punkte.

Dazu kommt: In der Sozialdemokratie sind fast alle Genossenschaften wie die Pflanzland-Bewegung, der Arbeitersport, die Naturfreunde usw. verloren gegangen. Das waren die Gruppierungen, die die Basis für Veränderungen bildeten. Wir können nur mit den Alten aus der Unterschicht antreten.

Aeschbach: Generell würde ich sagen, die materiellen und auch sonstigen Unterschiede in der älteren Generation sind sehr gross. Es gibt auch ein kleinbürgerliches Potenzial, das die SVP ausschöpft. Dort werden allgemeine Gefühle der Verunsicherung geschürt und nachher ausgenützt. Der SVP gelingt es, ein Heimatgefühl zu vermitteln.

Aber auch in der Linken gibt es ein Gefühl der Zusammengehörigkeit, das vielleicht etwas verschüttet wurde, das wir aber wieder wecken können und wollen.

Die Gemeinschaft im Sinne eines Zusammengehörigkeitsgefühls unter den Alten scheint dennoch eine glaubwürdigere Antwort auf heutige Fragen, als ein gesellschaftlicher Generationenvertrag zwischen minderbemittelten Alten und Jungen.

Mattmüller: Wir haben regelmässig auch Versammlungen mit Jungen zusammen, zum Beispiel zur Heroinabgabe-Abstimmung. Solche Versammlungen finden grossen Anklang und verschaffen die notwendige Glaubwürdigkeit und auch den Rückhalt in der Bevölkerung.

Aeschbach: Noch vor der Organisation muss aber eine Vertrauensbasis geschaffen werden. "Welche Zielsetzung soll eine Seniorenliste haben?" war die erste Frage, die ich mir zu Beginn gestellt habe. Der erste Punkt lautet: Wir von der SP müssen einen Teil des Vertrauens zurückgewinnen, das wir im Verlauf von 20 Jahren langsam verloren haben. Es gab ja eine Umfrage nach den Zürcher Kantonsratswahlen. Die SP erreicht demnach noch zwölf Prozent der über 65-Jährigen, die SVP hat 33 Prozent. Früher war es einmal umgekehrt. Damals verstand man unter Sicherheit noch soziale Sicherheit; damals war die SP noch stärkste Kraft unter den RentnerInnen. Heute wird Sicherheit mit Kriminalität, Abwehr von AsylbewerberInnen und anderen repressiven Inhalten verknüpft.

Für unsere Liste habe ich es folgendermassen formuliert: unseren eigenen Mitgliedern über 60 und den traditionellen SP-Wählern zu bestätigen, dass die SP nach wie vor ihre Interessen vertritt. Darüber hinaus möchten wir auch die WählerInnen wieder gewinnen, die wir über die Zeit verloren haben.

Ein bejahrter Mann, der noch bei den Kämpfen um die AHV dabei war, hat gesagt, damals habe man um zwei statt einen Servelat auf dem Teller gekämpft – aber dann hätten plötzlich alle ein Poulet auf dem Teller gehabt und diese Frage sei gar nicht mehr wichtig gewesen. Ist deshalb nicht auch die soziale Sicherheit in den Hintergrund getreten?

De Mestral: Für einige Zeit fühlte man sich relativ sicher. Ich kenne einige Erwerbslose, die mit 60 Jahren noch nichts gespart haben, denn sie meinten, ich habe ja AHV und dritte Säule, mir kann nichts mehr passieren. Der Verlust dieser Sicherheit in so kurzer Zeit war eigentlich kaum vorhersehbar und ist schwer zu verkraften.

Aeschbach: Bei Themen um die AHV ist bei den Versammlungen der städtischen RentnerInnen der Besuch am grössten. Das Interesse ist nach wie vor gross.

Gibt es einen neuen Generationenvertrag in der SP, der die Forderungen der Altersliste mit dem SP-Profil in Einklang bringt oder ist eure Liste nur Wahltaktik?

Aeschbach: Die SPS hat mit Ursula Koch die SeniorInnenlisten begrüsst, Frau Koch hat auch für andere Kantone solche Listen empfohlen. Inhaltlich deckt sich das Programm der SPS auch mit unseren Anliegen. Die Liste ist sicher nicht nur wahltaktisch bedingt, wir leben auch in einer Zeit, in der sich differenzierte Listen anbieten. Ich hätte nie mitgemacht, wenn es um eine Alterspartei gegangen wäre. Generationen gegeneinander auszuspielen bringt nichts. Wir brauchen die Partei, und sie braucht uns. Faktisch sind wir innerhalb der Partei auch so etwas wie ein sozialpolitische Lobby.

Mattmüller: Wir sind nur miteinander stark. Wir brauchen die Jungen wie die Alten. Die Gemeinsamkeiten müssen stärker hervorgehoben werden.

Wie können die Älteren die Verbindungen zwischen den Generationen fördern und klarmachen – ohne die tatsächlich bestehenden Gegensätze unter den Tisch zu wischen?

De Mestral: Ich kann das nur für mich persönlich und für heute beantworten: Keine Machtansprüche und Karrieregelüste und Spass am Projekt Nationalratswahlen zu haben. Mir ist es nicht wichtig, ob ich gewählt werde oder nicht. Werde ich gewählt, freue ich mich, weil ich denke, dass ich einiges einzubringen habe, werde ich nicht gewählt, hat sich das Engagement für mich gelohnt. Die Verbissenheit ist von mir abgefallen und das ist eine unerhörte Befreiung. Ich geniesse diese "Chance später Freiheiten".

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