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Redaktionsgespräch 10.99  mit Willy Spieler und Hans Schäppi

Die Subjekte der eigenen Befreiung

Wo bleibt die Forderung der Linken nach Mitbestimmung?

Die Schweizer Politik konzentriert sich zur Zeit auf die Wahlen vom 24. Oktober. MOMA hat sich die Frage gestellt, ob mit dem Wählen schon den Ansprüchen an die Demokratie Genüge getan ist. Wo sind die Diskussionen über Demokratisierung der Wirtschaft und in den Betrieben oder über das AusländerInnenstimm-recht geblieben? MOMA möchte sich nicht wie die übrigen Medien auf die Wahlprognoseninterpretation stürzen, sondern antizyklisch fragen, was denn nun mit der Mitbestimmung passiert ist. Am Gespräch mit der MOMA-Redaktion teilgenommen haben Hans Schäppi von der GBI und Willy Spieler von der SP.

Im SP-Parteiprogramm von 1982 ist der Satz zu lesen: "Das demokratische Prinzip ist für uns Sozialdemokraten nicht erfüllt, wenn Demokratie nur als Organisationsprinzip für die Machtverteilung im Staat dient. Demokratie, wie wir sie verstehen, muss in alle Bereiche hineingreifen und jedem Einzelnen in jedem Kollektiv möglichst viel Eigenständigkeit, Beteiligung und Mitverantwortung garantieren." Weiter ist zu lesen, Demokratie sei so lange nicht verwirklicht, wie sie von den Unternehmungen, den Massenmedien, den Familien und der Kultur ausgeschlossen bleibt. Willy Spieler fordert die Demokratisierung aller demokratisierbaren Bereiche. Wie hält es die SP mit ihrem Parteiprogramm?

Willy Spieler: Die Demokratisierung aller demokratisierbaren Bereiche war eine Parole der 68er, und ich freue mich, solche Sätze aus dem immer noch geltenden SP-Parteiprogramm zitiert zu hören. Diese Sätze sind auch nach wie vor zitierfähig. Es ist ein Grundwiderspruch unserer Gesellschaft, dass in ihr unterschiedliche, ja gegensätzliche Menschenbilder koexistieren: ein partizipatives für die Politik, ein autoritäres für die Wirtschaft oder auch für die (katholische) Kirche. Saint-Exupéry hat den schönen Satz geprägt: "Que suis-je, si je ne participe pas?" Partizipieren kann zweierlei bedeuten: Teilhabe an Ressourcen, Vermögen, Eigentum usw., aber auch Teilnahme an Entscheidungen, und zwar an allen wichtigen Entscheidungen, die uns betreffen. Dieses demokratische Partizipationsprinzip kann gewiss nicht nur für die Politik gelten, zumal die Politik immer weniger und die Wirtschaft immer mehr zu sagen hat. Von daher ist die Forderung nach Mitbestimmung über die Politik hinaus relevanter denn je.

Von den Gewerkschaften war über Mitbestimmung in letzter Zeit nicht mehr viel zu hören. Wir erinnern uns an die 1976 zur Abstimmung gelangte Mitbestimmungsinitiative, dann an das Eurolex-Paket im Vorfeld der EWR-Abstimmung. Damals wurde in der Schweiz das letzte Mal in einer breiten Öffentlichkeit über Mitbestimmung am Arbeitsplatz diskutiert. Ist bei den Gewerkschaften dieses Thema untergangen?

Hans Schäppi: Das ist nicht der Fall. Schon in den 80er-Jahren haben wir versucht, die Mitbestimmung mit unseren industriepolitischen Konzepten zu konkretisieren. Wir machten Konzepte für die Textil- später auch für die Chemieindustrie. Dabei haben wir Mitbestimmung klarer umrissen und Elemente zu ihrer Stärkung erarbeitet. Ziel war natürlich, die Position der ArbeitnehmerInnen über rein korporationistische oder vertragliche Politik hinaus zu stärken. Mit der Krise der 90er-Jahre (Fusionen, Restrukturierungen, Arbeitslosigkeit) sind diese Forderungen etwas in den Hintergrund gerückt. Mitbestimmung ist aber dringlicher denn je, konzentriert sich doch die wirtschaftliche Macht zunehmend in den Händen weniger an der Spitze internationaler Konzerne. Heute erleben wir eine wachsende Diskrepanz zwischen gesellschaftlichen Bedürfnis-

sen und kapitalistischer Effizienzsteigerung. Die Wirtschaft muss demokratischer werden. Damit wird die Mitbestimmungsfrage wieder aktueller.

Eine etwas provokative und bewusst kulturpessimistische Frage lautet: Wie können linke PolitikerInnen heute mehr Mitbestimmung fordern, wenn sie sich bewusst sind, dass damit auch undemokratisches, nationalistisches Gedankengut verbreitet wird? Die Maulkorbinitiative ist hier ein Hinweis. Brecht hat einmal gesagt, alle Macht dem Volke, doch wohin geht das Volk?

Spieler: Wir sind uns bewusst, dass in diesem Staat eine bürgerliche Mehrheit herrscht, trotzdem sind wir für Demokratie. Was wäre denn die Alternative? Vom menschenrechtlichen Ansatz her gelten demokratische Prinzipien natürlich für alle Menschen, die hier ihren Lebensmittelpunkt haben, ob mit oder ohne Schweizerpass. Gelingt es, diesen Ansatz in der Bevölkerung zu verankern, kann das auch ein Signal gegen Fremdenfeindlichkeit sein. Die Bevölkerung begreift die Demokratie immer noch ethnozentrisch – eine fatale Sache. Carl Schmitt, nachmaliger Hofjurist der Nazis, hat sich in seiner Verfassungslehre (1928) lobend über die Schweizer Bundesverfassung geäussert, weil in Artikel 4 zu lesen stand: "Alle Schweizer sind vor dem Gesetze gleich." Demokratie wird Menschen gleicher Abstammung reserviert. Das ius sanguinis bestimmt das Bürgerrecht. Viele SchweizerInnen sind noch stark geprägt von diesem Gedankengut.

Schäppi: Ich glaube, die Ethnisierung der sozialen Probleme hat eine klaren Hintergrund. Ein grosses Problem ist, dass auf der Linken auf die aktuellen sozialen Probleme wie neue Armut, Prekarisierung und Arbeitslosigkeit Antworten fehlen. Dort bestehen auch inhaltliche Defizite der Gewerkschaften und der linken Parteien. Demokratisierung jedenfalls haben wir nie nur formal verstanden, sondern auch inhaltlich, als ein Prozess der Mitbestimmung in verschiedenen Lebensbereichen. Für AusländerInnen sind Gewerkschaften gute Körperschaften; in gewerkschaftlichen Belangen gibt es keine Unterschiede zwischen SchweizerInnen und AusländerInnen. Gewerkschaften sind Organisationen, in denen AusländerInnen gleichberechtigt sind. Damit will ich natürlich nicht sagen, dass sich die Gewerkschaften gegenüber AusländerInnen, Frauen und Jugendlichen nicht noch mehr öffnen müssen.

Der einfache Zusammenhang von Bevölkerung, Demokratie und progressiver Politik scheint aber verloren. Nach der EWR-Abstimmung haben viele Linke gesagt: Direkte Demokratie ist nicht mehr ein angemessenes Mittel, die Welt ist zu komplex. Mittelschichtsinteressen wurden plötzlich höher gestellt als Demokratisierung.

Spieler: Das Problem, dass Demokratie von anderen Gruppen mit anderen Ansichten genutzt wird, besteht in jeder Demokratie. Als Allende Präsident Chiles war, führte er die Mitbestimmung in den Unternehmungen ein, mit der Konsequenz, dass es bei den Beschäftigten in den Kupferminen plötzlich christlich-demokratische Mehrheiten gab. Demokratie nur für "die Wahrheit" hörte auf, eine zu sein.

Schäppi: Es gab tatsächlich einige Linke, die nach der EWR so gegen die direkte Demokratie argumentiert haben. Das halte ich für eine sehr problematische Tendenz, die es aber heute in der Linken gibt. Es gibt ja auch Linke, die Privatisierung und das New Public Managment (NPM) befürworten, trotz Tendenz zur Entdemokratisierung. In den Gewerkschaften ist das aber nicht verbreitet. Ich verstehe die Gewerkschaft als soziale Bewegung, für die Demokratisierung eine Leitidee ist. Modernisierung über die Köpfe der Leute hinweg ist hingegen nicht unsere Leitidee.

Spieler: Das NPM ist für mich ambivalent. Es könnte auch von links besetzt und ein Einfallstor für Mitbestimmung werden. 1976 schrieb ich ein Buch über Mitbestimmung und habe schon damals mit Erstaunen festgestellt, wie demokratieresistent gerade die Staatsbetriebe waren. Weil sie sich für demokratisch legitimiert hielten, meinten sie, über keinen Spielraum für innerbetriebliche Demokratie zu verfügen. Die Vorgaben der staatlichen Instanzen oder des "Souveräns" mussten hierarchisch durchgesetzt werden. NPM bietet eine Möglichkeit, diese Hierarchien aufzubrechen.

Unter neoliberalen Vorzeichen spricht man zwar auch von einer Verflachung der Hierarchien, was im Mittelbau stimmt, aber nicht oben. Da soll es z.B. in den Spitälern plötzlich einen Superintendenten geben, der über der Verwaltung, der Medizin und der Pflege steht. Die Autonomie, die die staatliche Anstalten und Betriebe durch NPM gewinnen, könnte aber auch eine partizipative sein, wenn die Angestellten in die Wahl der Leitungsgremien und in die "strategischen" Entscheidungen einbezogen würden.

Noch einmal die Gewerkschaften: Auch wenn sie den Bauarbeitern formal die gleichen Rechte zugestehen, fehlen ihnen Qualifikationen, allen voran die sprachlichen. So können sie dennoch nicht mitbestimmen. Oder aus der Perspektive der ArchitektInnen: Partizipatives Planen führt zu Swiss Chalets, bringt wenig Innovation und ist deshalb verpönt. Da gibt es doch ein Mitbestimmungsproblem.

Spieler: Unbestritten. Aber die elitäre Logik solcher Überlegungen würde letztlich in einer Erziehungsdiktatur enden. Demokratie ist die Staats- und Gesellschaftsform der Geduld. Bloss weil das Volk unmögliche Dinge beschliesst, darf die Demokratie doch nicht kapitulieren. Gelingt es den Gewerkschaften nicht, zusammen mit den Bauarbeitern eine gemeinsame Politik zu entwerfen, oder gelingt es den ArchitektInnen nicht, ihr ästhetisches Verständnis zu kommunizieren, dann haben diese "Avantgarden" etwas falsch gemacht. Sie können sich – auch frei nach Brecht – kein anderes Volk, keine andere Basis wählen.

Hakt man beim Problem der Komplexität der heutigen Welt ein, muss man sicher einsehen, dass eine gewisse Spezialisierung heute sinnvoll und zwingend ist.

Spieler: Es geht bei der Mitbestimmung weniger um die operative Ebene, wo vor allem die Spezialisierung Platz greift. Es geht vielmehr um das grundsätzliche Legitimationsproblem. Wer legitimiert – sprich: wählt – die Unternehmensleitung, wer legitimiert – sprich: bestimmt – die Richtlinien der Unternehmenspolitik? Mitbestimmung in allen Details wäre gar nicht machbar, oder höchstens in überblickbaren Selbstverwaltungsbetrieben. In grösseren Unternehmungen ist die Legitimation notwendigerweise abstrakter. In der politischen Demokratie ist das nicht anders: Wir üben die Macht nicht selber aus, sondern delegieren sie an das Parlament und an die Regierung, und wir stimmen über Gesetze ab, nicht aber über deren Anwendung und Vollzug.

An der Mitbestimmung gibt es auch eine ökologische Kritik. In der grossen Industrie in Deutschland gibt es beispielsweise Mitbestimmung, aber nicht für die Produktion. Es werden noch immer ein Haufen überflüssiger und umweltschädigender Produkte hergestellt.

Schäppi: In den erwähnten industriepolitischen Konzepten haben wir uns an solchen qualitativen Kriterien orientiert: Was und wie soll produziert werden, wie soll umverträglich produziert werden?

In der heutigen Situation sind wir machtmässig in der Defensive. Mitbestimmung bedeutet für uns Anspruch auf Information und Kontrolle. Unter Umständen ist es günstiger, nicht direkt in Mitentscheidungsprozesse einbezogen zu sein, wenn man machtmässig in der schwächeren Position ist.

Heute haben wir eine forcierte kapitalistische Effizienzsteigerung, bei der für die ArbeitnehmerInnen, ungleich der Hochkonjunktur, nichts mehr herausschaut. Es gibt eine wachsende Differenz zwischen den gesellschaftlichen Bedürfnissen und der Effizienz- und Profitsteigerung. Die Menschen wollen heute ja nicht einfach ein drittes Auto. Die Bedürfnisse verlagern sich auf Bildung, Gesundheit usw. und gerade hier wird gespart, um die kapitalistische Effizienz vorwärts zu bringen. Und dieser Widerspruch wird für viele ArbeitnehmerInnen sichtbar. Heute sind damit wieder viele auf qualitative Fragen ansprechbar. Immer mehr KollegInnen sehen heute, dass mehr Wachstum und mehr Produktivität keineswegs automatisch mehr Arbeitsplätze, mehr Lohn und mehr Lebensqualität bedeuten. Oft sogar das Gegenteil.

Spieler: Das Shareholder-Denken, der absolute Vorrang des Kapitals vor der Arbeit hat für viele Menschen die Schmerzgrenze überschritten. In der Sozialethik gilt der umgekehrte Grundsatz des Vorrangs der Arbeit vor Kapital. Aus dieser Sicht ist das Shareholder-System völlig pervers. Jeder Ansatz zur Mitbestimmung treibt einen Keil in dieses System. Die Mitbestimmung ist auch nicht auf dem Rückzug. So hat z.B. die Fusion von Chrysler und Daimler das deutsche Mitbestimmungsrecht in die USA gebracht und es scheint der Belegschaft von Chrysler zu gefallen.

Politisch gibt es gegen die internationale Machtballung wenig Kontrollmechanismen. Ob sich globale Kontrollorgane auf die Schnelle realisieren lassen, ist mehr als fraglich. Mitbestimmung könnte jedenfalls eine – komplementäre – basisdemokratische Form der Kontrolle sein.

Schäppi: Bei Fusionen hat die Schweiz ja keine Mitbestimmungsmodelle zu exportieren. Wir haben aber Fusionen immer verfolgt, und sie genutzt, um die Betriebe zu vernetzen. Hier geben die die neuen technischen Möglichkeiten neue Mittel in die Hand. Informationen müssen fliessen, das ist enorm wichtig.

Ein neues Element, das sich noch bewähren muss, sind die Euro-Betriebsräte. Dort besteht die Möglichkeit einer verstärkten Kontrolle, Koordination und Information. Ich finde den Aufbau dieser Netze und Vertrauensleute wichtiger als einen Einsitz im Verwaltungsrat.

Spieler: Die Gewerkschaften haben in der Mitbestimmung eine wichtige Rolle, sie dürfen aber nicht anstelle der Arbeitenden tätig werden. Es braucht eine bessere Verknüpfung mit der Basis. Die Gewerkschaften haben die wichtige Rolle der Bildung und der Befähigung der Leute, damit sie ihre Mitbestimmung wahrnehmen können. Vertrauensleute sind gut. Sie sind aber nicht die Basis selbst. Hierin liegt auch das grösste Problem der Mitbestimmung, wenn die Motivation fehlt. Als in den Fünfzigerjahren die Regierung Adenauer zögerte, die Montanmitbestimmung einzuführen, drohte der DGB mit einem Generalstreik. Diese Streikbereitschaft für die Mitbestimmung würde heute fehlen.

Schäppi: Ich bin einverstanden. Man muss aber auch differenzieren: In der Phase der Hochkonjunktur hatte man in den Gewerkschaften mit dem Primat der Organisationsdisziplin und der Vertragspolitik auch materielle Erfolge. Die sind heute nicht mehr im gleichen Ausmass da. Organisationsdisziplin kann heute für Gewerkschaften nicht mehr der zentrale Punkt sein. Die Selbstständigkeit der Arbeitenden in den Gewerkschaften muss in den Mittelpunkt gerückt werden. Aber es gilt auch hier abzuwägen, weniger zwischen Organisationsdisziplin und Gewerkschaftsdemokratie, sondern zwischen Professionalisierung und Gewerkschaftsdemokratie.

Wer ist das Subjekt der Demokratisierung der Gesellschaft? Wie sähe ein Manifest für die Mitbestimmung aus?

Spieler: Ich würde den eingangs zitierten Satz aus dem SP-Parteiprogramm ganz an die Spitze setzen. Das Manifest müsste sodann von einem menschenrechtlichen Verständnis von Partizipation in allen demokratisierbaren Bereichen ausgehen. Für das Subjekt der Demokratisierung gilt es, den richtigen Zeitpunkt zu finden. NPM beispielsweise könnte eine Alternative zum Status quo wie zur Privatisierung sein, wenn Staatsangestellte sich auf diesem Weg ihre Partizipationsrechte erkämpften.

Schäppi: Will man der Konzentration von wirtschaftlicher Macht und der Logik der Entdemokratisierung etwas entgegensetzen, muss man die Gewerkschaft als soziale Bewegung verstehen. Dann steht die Demokratisierung der Wirtschaft und auch der Gewerkschaft selber im Vordergrund. Ist die Demokratisierung ein Leitbegriff, entsteht die Möglichkeit der Verknüpfung mit anderen sozialen Bewegungen.

 

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